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Große Werke der Literatur XV


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et du beau.8

      Etwa um die gleiche Zeit wie Sainte-Beuves Causerie verfasst Thoreau Zeilen, die sich auf den ersten Blick merkwürdig in einem Buch ausnehmen, das ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur propagiert. Im dritten Kapitel von Walden, „Reading“, bietet er ein rückhaltloses, ausgesprochen elitär wirkendes Plädoyer für das Studium der Klassiker, der antiken zumal, vorzugsweise in der Originalsprache! Auch wenn er im ersten Sommer am See kaum zur Lektüre gekommen sei, habe die Ilias stets griffbereit auf seinem Tisch gelegen. Der Leser reibt sich die Augen, wird aber alsbald mit der verblüffenden Auskunft belehrt, dass das Studium der Klassiker dem Studium der Natur nicht nur nicht entgegenstehe, beide seien vielmehr aus dem gleichen Holz geschnitzt, die Klassiker nämlich genauso natürlich wie die Natur selbst. Sie zu vernachlässigen wäre gerade so, als würde man sich auch nicht für die Natur interessieren:

      Men sometimes speak as if the study of the classics would at length make way for more modern and practical studies; but the adventurous student will always study classics, in whatever language they may be written and however ancient they may be. For what are the classics but the noblest recorded thoughts of man? They are the only oracles which are not decayed, and there are such answers to the most modern inquiry in them as Delphi and Dodona never gave. We might as well omit to study Nature because she is old (100).

      Klassiker konfrontieren uns mit Neuem, aber es ist nicht das Neue der Mode, sondern das vergessene Alte der Natur. Ähnlich wie Sainte-Beuve sieht Thoreau in ihnen eine nur scheinbar paradoxe Verquickung von revolutionären und konservativen Impulsen. Klassiker altern nicht, sie sind lebensprall wie die Natur, und wie diese vermitteln sie Zeit und Zeitlosigkeit, Besonderes und Universales miteinander:

      No wonder that Alexander carried the Iliad with him on his expeditions in a precious casket. A written word is the choicest of relics. It is something at once more intimate with us and more universal than any other work of art. It is the work of art nearest to life itself (102).

      Klassiker sind „heroic books“ (100). Sie spiegeln das in ihrer Zeit, was dem Verschleiß – „the corrosion of time“ (102) – entzogen war und deshalb auch uns nachhaltig zu faszinieren vermag. Wie die Morgendämmerung, in der sie vorzugsweise gelesen werden sollten, erfüllen sie uns mit Hoffnung und Lebensfreude.

      Besonders sinnfällig wird die Affirmation des Lebens in den Rhythmen von Tag und Nacht sowie im Zyklus der Jahreszeiten. Kein Tag, kein Frühling ist wie der andere, doch mit großer Verlässlichkeit wiederholt sich das Grundschema ihrer Abfolge. Die natürlichen Zyklen werden Thoreau nicht nur zum wichtigsten thematischen Anliegen, als Vorbild, an dem der Mensch seinen Tagesablauf ausrichten sollte; darüber hinaus gewinnt er aus ihnen die Struktur seines Buches, das damit nicht nur thematisch-stofflich, sondern auch formal den Status eines Klassikers im Sinne eines ‚natürlichen‘ Buches beansprucht.

      Bisher lag der Akzent meiner Betrachtung von Walden auf der polemisch-kritischen Seite: Das Buch vollführt, insbesondere im „Economy“-Kapitel, eine großangelegte Aufräumaktion, indem es bald aggressiv, bald witzig Grundannahmen zeitgenössischer Ökonomik in Theorie und Praxis attackiert. Die Radikalität dieser Aufräumaktion ist jedoch nicht revolutionär in dem Sinne, dass sie etwas völlig Neues ins Werk setzen will, vielmehr ist sie ‚radikal‘ im ursprünglichen Wortsinn, als Erinnerungsarbeit, die jene ‚Wurzeln‘ freilegt, jene Prinzipien, die eigentlich selbstverständlich und seit jeher anerkannt sind. So geht es im Sinne Sainte-Beuves in einem ersten Schritt um die Identifikation und Diagnose jener Kräfte, die dem Leben entgegenstehen, seine legitimen Impulse beschädigen oder verschütten. Die dabei eingesetzten, bisweilen ikonoklastischen Strategien dienen letztlich der Wiederherstellung einer gestörten Ordnung, eines Gleichgewichts, das durch die zerstörerische Dynamik des Status quo verlorengegangen oder in Vergessenheit geraten ist.

      Bei seiner Analyse zeitgenössischen Wirtschaftens kommt Thoreau zu dem Ergebnis, dass das System auf der elementaren Ebene der Bedürfnisbefriedigung versagt. Hier ist in der Tat eine gewaltige Entrümpelung fällig, ein busk:

      Would it not be well if we were to celebrate such a ‚busk,‘ or ‚feast of first fruits,‘ as Bartram describes to have been the custom of the Mucclasse Indians? ‚When a town celebrates the busk,‘ says he, ‚having previously provided themselves with new clothes, new pots, pans, and other household utensils and furniture, they collect all their worn out clothes and other despicable things, sweep and cleanse their houses, squares, and the whole town, of their filth, which with all the remaining grain and other old provisions they cast together into one common heap, and consume it with fire. After having taken medicine, and fasted for three days, all the fire in the town is extinguished. During this fast they abstain from the gratification of every appetite and passion whatever. A general amnesty is proclaimed; all malefactors may return to their town.–‘ (68).

      Die zeitkritische Polemik, der auf den ersten Blick ‚revolutionäre‘ Impuls von Walden weicht jedoch mehr und mehr einer affirmativen Haltung. Denn jene Schönheit, jene Harmonie, auf deren Wiederherstellung der Klassiker zielt, findet Thoreau vorzüglich im Erfahrungsraum der Natur. Die Natur führt eine Ökonomie vor, von der wir lernen können. Indem der Mensch sich ihrem Einfluss öffnet, sich in ihre Rhythmen einbettet, kann er auf Heilung hoffen. Denn im Unterschied zur Gesellschaft ist die Natur durch und durch gesund.

      Die Akzentverschiebung von der Gesellschaft zur Natur verweist auf die Genese von Walden. Das 1854 erschienene Buch ist das Ergebnis eines langen und mühevollen Entstehungs- und Reifeprozesses. Die Forschung hat sieben Fassungen identifiziert, ferner zwei Hauptschaffensphasen, von denen die erste in die Jahre 1846–49, die zweite in die Jahre 1852–54 fällt. Die Unterschiede von Erst- und Endfassung sind dramatisch, vergleichbar denen zwischen Melvilles ‚Ur-Moby-Dick‘ und dem 1851 veröffentlichten Meisterwerk.

      Wie kam es dazu? Thoreau hatte gehofft, sich wie sein großes Vorbild Emerson eine Existenz als freier Schriftsteller aufzubauen. Mit seinem ersten Buch jedoch, A Week on the Concord and Merrimack Rivers (1849), gelang ihm ein Achtungserfolg bei der Kritik, der Verkauf aber war derart miserabel, dass der Autor vier Jahre später auf Bitten des Verlegers die Restauflage – 706 von 1000 auf eigene Kosten gedruckte Exemplare – zurücknahm. Der launige Vermerk im Journal müsste an sich schon ausreichen, den Vorwurf auszuräumen, Thoreau habe keinen Humor besessen: „I have now a library of nearly nine hundred volumes, over seven hundred of which I wrote myself.“9 Nach dem finanziellen Fiasko der Week konnte Thoreau um 1849 nicht damit rechnen, einen Verleger für ein weiteres Buch zu finden. Walden war einstweilen nicht zu veröffentlichen, aber weder das Manuskript noch die darin abgehandelten Themen waren damit erledigt. Nach einer Zäsur von knapp zwei Jahren nimmt Thoreau einen neuen Anlauf, und was nun mit dem Text geschieht, ist atemberaubend. Die auf die economy-Thematik fokussierten Tiraden werden angereichert, zugleich aber von einer Sicht ergänzt und überwölbt, die die gefallene Welt des zeitgenössischen Wirtschaftens in einer Hymne an die Natur aufhebt. Und in dem Maße, wie die Natur in den Vordergrund rückt, verliert das Thoreausche Ich an Aggressivität, es wird ruhiger, ja über weite Strecken nimmt es sich ganz zurück und entäußert sich in der Hingabe an die Natur.

      Die Natur ist für Thoreau ein ständig wiederkehrender Geburtsvorgang, Geburt aber geht mit Wehen einher, und die können heftiger sein als die Schmerzen, die der Tod verursacht. Walden ist ein (im Sinne Schillers) sentimentalisches, aus der Erinnerung geschriebenes Buch, aber es ist nicht sentimental, es ergeht sich nicht in Gefühlsduselei und Naturschwärmerei. Davor bewahrt Thoreau nicht zuletzt ein persönlicher Entwicklungsschub, der mit der zweiten Entstehungsphase von Walden zusammenfällt und vor allem im Journal eindrucksvoll dokumentiert ist. Seit den frühen 1850er Jahren macht er während der Ausflüge detaillierte Notizen über seine Naturbeobachtungen, die er entweder noch am selben Abend oder später zu ausführlichen Berichten mit genauen Zeit- und Datumsangaben ausarbeitet. Die Intensität der Naturstudien hat die letzten Fassungen von Walden nachhaltig beeinflusst. Schon vorher Thoreaus bevorzugter Aufenthalt, wird die Natur nun zum zentralen Erfahrungsraum. Als Inbegriff des Lebens zeichnet sie sich durch Wandel aus, durch den Rhythmus von Tod und Geburt, und nirgends erscheint dieser Rhythmus dramatischer als im Wechsel der Jahreszeiten. Bereits in einem der ersten Kapitel, „Solitude“,