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Große Werke der Literatur XV


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exzentrischer, wenn man will, peripherer Teil dieser Trilogie. Wo das ‚Zentrum‘ dieses Textkorpus liegt und was die drei Erzählungen wesentlich verbindet, ist überhaupt gar nicht so leicht zu sagen. Hier setzt meine heutige These an. Denn so wie verschiedene Dessins und Schnitte gleichwohl bestimmte Muster gemeinsam haben können, die eigentlich erst ein mehr unifarbener fremder Text deutlicher sichtbar macht, könnte es dann so sein, dass die drei Erzähl-‚Texte‘, Erzähl-Gewebe: Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine um so etwas wie eine ‚externe Mitte‘ kreisen: um Motive und Strukturen des europäischen Naturalismus?4

      Erzähl-Fäden und -Muster

      Ich beginne meine Beobachtungen und Überlegungen mit einer kleinen, aber wichtigen Szene aus Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen (1888). Der ursprüngliche Untertitel: Eine Berliner Alltagsgeschichte, passt zur Alltäglichkeit der Szene. In ihr – man merkt gleich das Kräftige im Feinen – geht es um kleine alltägliche Tragik, um die Erfahrung, alltäglich ein wenig zu sterben. Die beiden Hauptpersonen, indem sie sich dem Alltag gesellschaftlicher Konventionen unterworfen haben, erleiden einen leisen, allmählichen, kalten Tod: Sie sterben erst in ihren Gefühlen, dann in ihrem humanen Selbstbewusstsein, in ihrem ‚Herzen‘, wie man zu Fontanes Zeit gesagt hätte, bis sie immer mehr nur noch wie Automaten weiterleben. Denn „ohne rechte Liebe“,1 wie es später Effi Briest (1894) formulieren wird, eine Liebe, die Freiheit und Aufrichtigkeit voraussetzt, können manche Menschen, können vor allem viele Frauen bei Fontane, nicht überleben.2

      Problem-, Dreh- und Angelpunkt der Handlung in Irrungen, Wirrungen ist die unmögliche Liebe zwischen einem Baron, Gardeoffizier, von Schulden bedrängt – was sonst? –, und einer jungen, hübschen, kleinbürgerlich lebenden Textilarbeiterin. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sich beide getrennt und Botho von Rienäcker hat eine reiche Erbin geheiratet. Eines Tages, auf dem Heimweg von der Arbeit, geht Lene die Lützowstraße in der Nähe des Tiergartens hinunter:

      Aber mit einem Male hielt sie und wußte nicht wohin, denn auf ganz kurze Entfernung erkannte sie Botho, der, mit einer jungen, schönen Dame am Arm, grad auf sie zukam. Die junge Dame sprach lebhaft und anscheinend lauter heitre Dinge, denn Botho lachte beständig, während er zu ihr niederblickte. Diesem Umstand verdankte sie’s auch, dass sie nicht schon lange bemerkt worden war, und rasch entschlossen, eine Begegnung mit ihm um jeden Preis zu vermeiden, wandte sie sich, vom Trottoir her, nach rechts hin und trat an das zunächst befindliche große Schaufenster heran, vor dem, mutmaßlich als Deckel für eine hier befindliche Kelleröffnung, eine viereckige geriffelte Eisenplatte lag. Das Schaufenster selbst war das eines gewöhnlichen Materialwarenladens, mit dem üblichen Aufbau von Stearinlichtern und Mixed-Pickles-Flaschen, nichts Besonderes, aber Lene starrte darauf hin, als ob sie dergleichen noch nie gesehen habe. Und wahrlich, Zeit war es, denn in ebendiesem Augenblicke streifte das junge Paar hart an ihr vorüber, und kein Wort entging ihr von dem Gespräche, das zwischen beiden geführt wurde. […]

      Lene fühlte das Zittern der dünnen Eisenplatte, darauf sie stand. Ein waagerecht liegender Messingstab zog sich zum Schutze der großen Glasscheibe vor dem Schaufenster hin, und einen Augenblick war es ihr, als ob sie, wie zu Beistand und Hilfe, nach dem Messingstab greifen müsse, sie hielt sich aber aufrecht, und erst als sie sicher sein durfte, dass beide weit genug fort waren, wandte sie sich wieder, um ihren Weg fortzusetzen. Sie tappte sich vorsichtig an den Häusern hin, und eine kurze Strecke ging es. Aber bald war ihr doch, als ob ihr die Sinne schwänden, und kaum, dass sie die nächste nach dem Kanal hin abzweigende Querstraße erreicht hatte, so bog sie hier ein und trat in einen Vorgarten, dessen Gittertür offen stand. Nur mit Mühe noch schleppte sie sich bis an eine kleine zu Veranda und Hochparterre hinaufführende Freitreppe, wenige Stufen, und setzte sich, einer Ohnmacht nah, auf eine derselben.

      Als sie wieder erwachte, sah sie, dass ein halbwachsenes Mädchen, ein Grabscheit in der Hand, mit dem sie kleine Beete gegraben hatte, neben ihr stand und sie teilnahmvoll anblickte […]. (415/416)

      Und als Lene wieder etwas zu Kräften kommt und weggeht, sieht ihr das Kind „traurig verwundert nach, und es war fast, wie wenn in dem Kinderherzen eine erste Vorstellung von dem Leid des Lebens gedämmert hätte“ (ebd.).3

      Dies könnte eine naturalistisch genaue Theater- oder Filmszene sein. Aber die feinen Fäden der Erzählkunst Fontanes zeigen viel mehr als nur Szene und Handlung. Hier ist alles voll Bedeutung, die weit voraus- und zurückführt.4 Zunächst ist es die Kunst der Perspektiven, die die ‚Fäden‘ sozusagen ‚auseinander zieht‘, also die Aussagen differenziert. Wir, die Leser, sehen genau und fühlen geradezu körperlich mit Lene mit, sehen aber auch hinter ihrem Rücken wie Botho und Käthe vorbeigehen. Botho bewegt sich, was eine weitere Perspektive eröffnet, auf Lene zu, aber ohne sie zu bemerken. So macht die Konstellation der Figuren auch sie für ihn zu einem Ding unter so vielen anderen Dingen. Und wir Leser sollen alles registrieren: die vielen Leute und die Einzelnen, die Intensität von Lenes Betroffenheit und die Tatsache, dass ihr Geliebter sie übersieht, die Welt der Gefühle und die Oberfläche der Dinge, die Detailgenauigkeit der „geriffelten Eisenplatte“ beispielsweise, oder die der „Stearinlichter“ oder die des „waagerecht liegenden Messingstabes“, den wir in der Vorstellung beim Lesen geradezu anfassen können. So wird Lene ganz wörtlich und vor unseren Augen ‚verdinglicht‘. Und was bedeutet das Schaufenster?

      Es wäre von hier nur ein kleiner Schritt gewesen zu einer Film-Inszenierung, etwa im Stile Rainer Werner Fassbinders:5 Wirkt die Schaufensterscheibe nicht bereits jetzt in der Vorstellung beim Lesen wie ein Spiegel, in die wir Leser, ganz wie es im Film die Kamera täte, über Lenes Schulter hinweg hineinschauen und in dem wir die junge Frau erblicken, überblendet von Dingen, Straße, Passanten, ’gleich-gültig‘ im Blick des sie nicht bemerkenden, selbst aber ebenfalls im Spiegel sichtbaren Geliebten, eine unter vielen und Ding unter Dingen? Doch diese Spiegelung sagt noch mehr: ‚Ding unter Dingen‘ ist jetzt nicht nur Lene, das ist hier auch Botho. Und das hat, wenn man richtig hinschaut, weit reichende Bedeutungen.

      Denn was so verfremdet wird, das wird bedeutsam herausgehoben. Es verweist auf andere Details und Szenerien außerhalb des engeren Kontextes. Man sieht, wie mehrere Erzählfäden sich treffen. Bothos Lachen und Nichtbemerken erinnert etwa retrospektiv daran, wie er Lene früher einmal, als sie noch meinten, zusammen glücklich zu sein, „mit leichter Handbewegung“ als „Mademoiselle Agnes Sorel“ vor seinen befreundeten Offiziers-Kameraden, beiläufig, aber unüberhörbar, beleidigt hatte (390).6 Und dem entspricht dann auch ein nach vorn weisender Bruch in Lenes Leben, der genau jetzt beginnt. Sie wird wegen dieser Begegnung in der Lützowstraße von der nahe gelegenen Gärtnerei, ihrem früheren kleinen Refugium und „Liebesgärtlein“, wegziehen. Diese Fremde, auch der immer noch offenkundige Gegensatz von Natur und Stadt, sind jetzt schon spürbar als plötzliche Kälte und Anonymität um sie her, durch das Motiv des kleinen Vorgartens, wo sie zusammenbricht, noch unterstrichen. Noch genauer und feiner: Von der jetzigen Erschütterung wird die junge Frau „eine weiße Strähne“ in ihrem Haar behalten (423), ein feiner, aber erkennbarer Verweis zurück auf ihr Haar, mit dem sie einmal ein paar Blumen für Botho gebunden hatte, und zugleich ein Blick voraus, eben ein Zeichen für Alter und Tod, so dass das Zerbrechen dieses Verbundenseins – „Haar bindet“, hatte sie damals ahnungsvoll gesagt (379) – nach und nach den inneren, den emotionalen und im weiteren Sinn auch den humanen Tod bedeuten wird, auch wenn es nur ein leiser Tod ist.

      Botho hat dem „Herkommen gehorcht“ und weiß, dass er daran innerlich „zugrunde gehen“ wird, aber auf komfortable Weise, oder, wie er sich ausdrückt: „Er geht besser zugrunde, als der, der […] widerspricht“ (405). In einer viel späteren, dieser hier aber immer noch korrespondierenden Szene auf dem großstädtischen Friedhof – ein kultivierter Natur-Raum innerhalb der Großstadt, wie der Tiergarten-Park und natürlich die Gärtnerei und jetzt der kleine Vorgarten – wird er von Zeichen des Todes umgeben sein, die zugleich eine Welt gefühlskalter Oberflächlichkeit und universaler Käuflichkeit vorstellen, so wie jetzt schon die Dinge im Schaufenster. Ich meine jene Episode, in der er einen Kranz auf das Grab von Lenes Mutter legen will: Gerade im Versuch, an eine für ihn eigentlich lebenswichtige Kontinuität zumindest in einer Geste anzuknüpfen, erlebt er deren endgültiges Zerreißen, auch dies wieder in