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Große Werke der Literatur XV


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Kranz, und braucht schließlich einen Führer, um – das muss der Leser sich hinzudenken – im Wirrsaal der Friedhofswege zwischen Gräbern, die alle fast gleich aussehen, nicht verloren zu gehen (vgl. 446–453). Und diese Szene, diese das Innere veräußernde fremde Todeswelt – sie erinnert nicht zuletzt an den Friedhof am Ende von Germinie Lacerteux (1865) der Brüder Goncourt – wäre nun wirklich sehr gut in einen Film umzusetzen.

      Sieht man die beiden Szenen zusammen, dann verstärkt die Korrespondenz der Motive erneut deren Zeichenfunktion, eine Funktion des Verweisens auf Anderes; und je mehr diese Intensität wächst, umso mehr kann sie auch Konträres bezeichnen: Die Fremde spricht von verlorener Nähe und Heimat als etwas Lebensnotwendigem, die beliebige oder auch wirr zugebaute Stadtwelt spricht von der Sehnsucht nach harmonischen Naturlandschaften, einer Sehnsucht, die noch über die Verweis-Kette von Vorgarten bzw. Friedhof, Gärtnerei, Park, Ausflugsort am Fluss und so fort hinausführt. Wenn dort der entscheidende Bruch in der Liebesgeschichte geschehen war, der sich im endgültigen Abschied nach der plötzlichen Begegnung und im Wegziehen aus der Gärtnerei wiederholt, so spricht auch das vom Bedürfnis nach umfassenderer, lebendiger Geborgenheit und ganz einfach Liebe. Der „Ring“ aus Haar, der gerundete Kranz aus „Immortellen“, das Anteil nehmende und gärtnernde Kind – bei Fontane durchaus noch von romantischer Symbolik des sich erneuernden Lebens geprägt –,7 all das erinnert gerade in seinen großstädtisch-modernen Verfremdungen, die ja auch ein Moment zeitlicher Unwiederbringlichkeit markieren, an eine zyklisch sich erneuernde Natur, harmonisch, liebevoll, groß im Sinne Rousseaus, der Romantik, Ludwig Feuerbachs, durchaus auch noch bei Karl Marx, erst recht bei Friedrich Engels zu finden, und vor allem eben – und damit erkennen wir vielleicht einen Teil des Suchbilds – eine zur Zivilisation und Technik alternative Natur, der wir, und das mag viele überraschen, immer wieder im Roman des Europäischen Naturalismus begegnen.8

      Cécile, Lene, Stine – und Effi

      Dass die Europäischen Naturalisten auch, und meines Erachtens sogar wesentlich, geradezu Rousseauisten und Romantiker waren, und dass Fontane in feinen Verweisen und Verknüpfungen daran Teil hat, soll uns gleich beschäftigen. Vorerst wollen wir die andere Hälfte des naturalistischen Kontexts im Œuvre Fontanes in den Blick nehmen: die Natur im Sinne Darwins, den ‚natürlichen‘ Überlebenskampf in der modernen Zivilisation und Gesellschaft.

      Die Komparatistik hat sich bei Fontane ganz überwiegend für Effi Briest interessiert und diesen Roman immer wieder in den Kontext von Madame Bovary, Anna Karenina, Middlemarch oder A Portrait of a Lady gestellt.9 Aber das ist nur zum Teil überzeugend. Effi Briest ist bei allem feinen psychologischen Takt materialistisch härter konzipiert als die anderen genannten Romane. Wird nicht Effi, wenn sie von ihrem Mann umworben und von ihren Eltern verheiratet wird, wird sie nicht letztlich wie ein Ausstattungsstück behandelt, das richtig „stehen“ muss,10 um gut zu wirken? Wird sie nicht, wie gesellschaftlich gesittet und leichthin immer, eigentlich doch geradezu verkauft, und hat sie das nicht von vornherein akzeptiert? Natürlich hat Tolstois Anna den mächtigen Karenin letztlich wegen gesellschaftlicher und materieller Vorteile geheiratet. Aber das ist nicht der Konflikt, an dem sie verzweifelt. Sie stirbt an der Enttäuschung ihrer totalen Liebe. Effi hat ihren Verführer Krampas nie geliebt, sehnt sich weder nach ihm, noch leidet sie an Schuldgefühlen. Aufgerieben wird sie davon, dass sie abhängig bleibt: Abhängig ist sie im Sorgerecht, ja Besuchsrecht für ihr Kind, abhängig ist sie lebenslang von den Vorurteilen anderer, vor allem denen ihres geschiedenen Mannes; und eben auch materiell und in ihrer ganzen Lebensführung ist sie abhängig.

      Nur ein Detail sei vergleichend genannt. In Madame Bovary ist viel von Geld die Rede. Aber wenn die Bovary das Geld ihres Mannes verschwendet und Schulden macht, sie würde ja auch stehlen oder sich prostituieren, dann letztlich aus verzweifelter Sehnsucht nach einem von Liebe erfüllten Leben, so geprägt von Clichés, illusionär, ja teilweise dumm sie sich das immer vorstellen mag. In dem Augenblick, in dem sie das Gift nimmt, von ihren Schulden gehetzt, ist sie doch strahlend schön wie nie zuvor, und, wie es ausdrücklich heißt: „Sie litt nur an ihrer Liebe“.11 Wenn Effi Briest dagegen den Brief öffnet, in dem ihre Eltern ihr von Duell und Scheidung berichten, liegt höchst materiell ein Bündel Banknoten bei. Auf dem umhüllenden Papierstreifen steht die Summe, und ausdrücklich vermerkt der Erzähler: „von des Vaters Hand“.12 Das ist viel unauffälliger erzählt als die Geldverwicklungen der Bovary, aber heißt es nicht ganz fein, ganz hart und ganz anders: Innstetten hat Effi ihren Eltern wie eine fehlerhafte Ware zurückgegeben, und sie mögen von jetzt an bitte für ihren Unterhalt aufkommen?

      Wie steht es nun mit Effi Briests ‚armen Schwestern‘, zunächst einmal denen bei Fontane selbst? Noch viel drastischer als Effi war Cécile, eine sehr schöne, sensible, innerlich aufrichtige, aber nahezu völlig ungebildete ‚femme fragile‘, seinerzeit ‚gekauft‘ worden. Der alte Fürst hat sie ihrer verwitweten und verarmten Mutter abgenommen, und dann wurde sie an dessen Sohn geradezu ‚vererbt‘: ein schöner, wertvoller Besitz’, bewundert und geliebt wie ein edles Pferd, aber eben genau das. Und als Fürstenmaitresse hatte sie die ökonomische Basis erworben (z.B. „das Gut […], das will sagen, [das] Gut der Frau“, 252), wovon ihr Mann und sie jetzt gut leben können. Allerdings, eine adlige Fürstenmaitresse gehörte damals zur großen Gesellschaft. Aber so ist sie freilich auch mit einer ‚Geschichte‘ belastet, die Gordon, der sie zu lieben meint, nicht erträgt. Wenn er Cécile beleidigt, beleidigt er auch die Liebe, zu der er nicht finden kann. Und wie eine erinnerte Heimat, in die man ebenfalls, wie in die verweigerte Liebe, nicht hinein findet, stehen hier die Waldlandschaften des Harz dagegen und die üppigen Blumengärten in Berlin, die „Blumenwelt“ (259), die die kranke Cécile von ihrer Terrasse aus sieht. Sie stehen da wie eine Natur, die man durch ein Fenster betrachtet. Hinter allem Zwang und Krampf gesellschaftlicher ‚Wirrungen‘ wird eine Natur sichtbar, die schmerzlich, ja tödlich fehlt.13

      In Irrungen, Wirrungen, wie Cécile eine Geschichte unlebbarer Anpassung an gesellschaftliche Konventionen, schlägt die Beleidigung noch klarer auf den Beleidigten zurück. Und auch hier, im Kern der ‚Wirrungen‘, geht es nur oberflächlich um Standesunterschiede: Botho hat, wie die Leser genau erfahren, „9000 jährlich und gibt 12000 aus“ (361): für Rasse-Pferde, eine Gemälde-Sammlung und dergleichen. Die Hypothek auf seinen Familienbesitz wurde eben gekündigt. Er muss, er muss, er kann nicht anders, als sich an eine reiche Erbin zu ‚verkaufen‘, heiter und komfortabel gewiss, alles wird im Plauderton vereinbart, so wie ja auch Céciles Vorgeschichte als Fürstenmaitresse ganz gesittet verlaufen und nach ‚höfisch‘ geprägten Moralgesetzen auch völlig akzeptabel gewesen war, wie sie nur als ‚Klatsch‘ weiter lebt, und schließlich ja auch bürgerlich wohl situiert zu Ende geht. Aber prinzipiell herrschte hier derselbe materielle Zwang wie bei Stines Schwester Pauline, die sich vom Baron aushalten lassen muss. Und nun erkennt man auch den komplementären Wertekonflikt zu den Beleidigungs-Konstellationen. Stine weiß neben vielem anderen, dass ihr kranker junger Graf, krank durch eine „standesgemäße“, ganz „ritterliche“ Kriegsverletzung, so er wegen solch einer Mésalliance sein Erbe verlöre – wohlgemerkt: Was sein Adel wert ist, wird durch ein „Majorat“ (541), also durch einen Erbschafts-Vertrag bürgerlichen Rechts geregelt –, dass er dann so gut wie mittellos wäre und als gewöhnlicher Invalide auch so gut wie erwerbsunfähig. Und für alles, was dann das Leben an Härte und Misere bringen wird, fragt ihn Stine, „soll das Herz aufkommen“ (552)?

      Bei Fontane ist alles taktvoll gemildert, aber das ‚Herz‘ hat keine Chance. So geht es letztlich sehr klar auch jetzt um Menschen, die vom Geld definiert werden, die sich verkaufen müssen, deren Humanität dagegen, wie die Stines, hilflos ist, oder um Menschen die, wie in den Beleidigungen gegenüber Cécile und Lene, zuletzt sich selbst zerstörend gegen die Welt opponieren. Und es geht auch bereits um arbeitende Menschen: Gordon ist zwar ein ehemaliger Offizier und wird satisfaktionsfähig sein, aber jetzt ist er ein akademisch gebildeter ‚höherer Angestellter‘; Lene und Stine sind Arbeiterinnen. Sie machen saubere, feine, anspruchsvolle Textilarbeit, teilweise, und nicht ungemütlich, zu Hause; und die Industriearbeit bei Borsig wird in einer oft zitierten Szene in Stine gerade als Mittagspause dargestellt. Gleichwohl, die Verweisfunktion auch feiner Fäden und Spuren auf eine harte Realität der Zeit ist unverkennbar. Anders gesagt, und das scheint