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Große Werke der Literatur XV


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in diesem Sinne der „Dreh- und Straßenspiegel“ in Stine (482), der Distanz zur ‚Straße‘ wahrt, diese aber zugleich auch pars pro parte heranholt. Und Stine wird diesem Sog letztlich nicht entgehen, so wie auf ihre Weise auch Lene nicht und auch nicht Cécile. Und, um ein vorerst letztes Beispiel zu nennen, die vielfach verschachtelte, in Teilen verborgene, in Teilen zur Erzähl-Bühne21 erweiterte Gärtnerei am Anfang von Irrungen, Wirrungen hängt sicher metonymisch mit der großen und harten Großstadt-Welt ‚draußen‘ zusammen; man denke nur an die Betrügereien und die sexuellen Anspielungen des Dürr-Paares. Aber präsent ist die Welt ‚draußen‘ auf dieser erzählten ‚Bühne‘ vor allem in der Musik vom Tiergarten her und natürlich in den weit hinaus schweifenden Gesprächen. Fordern sie die Leser nicht geradezu auf, mit hinein zu hören und zu reden und zu denken?

      Effi Briests ‚ganz arme Schwestern‘

      Freilich ‚den‘ Naturalismus gibt es nicht. Es gibt, wie anderswo gezeigt,22 klare gemeinsame Voraussetzungen und durchaus widerstrebende Folgerungen. Und genau in diese Vielfalt sind Fontanes Metonymien zwar distanziert, aber farbig und fest hinein „verwoben“.23 Für eine transnational interessierte Lektüre Fontanes nun besonders aufschlussreich scheint mir zuvorderst jene zweifache Bedeutung, die ‚Natur‘ im europäischen Naturalismus oft hat: ‚Natur‘ im Sinne eines soziologisch gewendeten Darwinismus – das kann hier natürlich nur ganz allgemein so benannt werden, bleibt aber richtig –; und mindestens ebenso wichtig ist hier eine ‚Natur‘ im Sinne Rousseaus und der Romantik. In diesem doppelten metonymischen Verweis treten die feinen ‚naturalistischen Fäden‘ in Fontanes Erzählkunst kräftiger hervor und verknüpfen die drei in ihrer Entstehung einander einrahmenden Erzählungen: Cécile, Irrungen, Wirrungen, und Stine. Immer ist es dabei der Roman des Naturalismus, den es auf einem Niveau wie dem Fontanes in der Deutschen Literatur ganz einfach nicht gibt, der diese kräftigen Farben liefert.

      Wo etwa Fontanes Stine nur fürchtet, dass „das Herz“ gegen die Alltagsmisere nicht „aufkommen“ wird – „es ist ein ander Ding, sich ein armes und einfaches Leben ausmalen oder es wirklich führen“ (552) –, da wird genau dieser Konflikt, „ein armes […] Leben […] wirklich [zu] führen“, im europäischen Naturalismus immer wieder drastisch zu Ende erzählt. Und dieser Konflikt ist, was es bei Fontane nie gibt, eigentlich immer schon vorweg entschieden. Man kann hier völlig zu Recht von ‚Effi Briests ganz armen Schwestern‘ sprechen und sehen, wie Lene oder Stine sich ihnen nähern. Der Ring aus Haar, der Kranz aus Blumen bleiben in Fontanes Irrungen, Wirrungen fern hin verweisende Spuren, feine Fäden, die aber mit drastischeren Texten verbunden werden können. In George Gissings The Nether World (1889) etwa muss alles, was an eine bergende, zyklische Natur auch nur erinnert, sofort verkauft werden: der Ehering gleich am Tag nach der Hochzeit an den Pfandleiher – so plakativ ‚determiniert‘ geht es bei Fontane nie zu, aber sagt nicht Lenes Ring aus Haar letztlich genau dasselbe? –, die Kinder zur Arbeit, der Rhythmus von Morgen und Abend an die Sorge um Essen und Alkohol, die Familien-Kontinuitäten an das Milieu bzw. an das Geld, ein Geld, das verdient wird nicht nur durch Arbeit, sondern eben auch durch Verbrechen und Prostitution. Sind aber nicht auch solche Farben in den feinen Motiv-Fäden Fontanes präsent?

      Am nächsten kommt Fontane vielleicht dem Naturalismus, wenn der Versuch, aus gesellschaftlichen Konventionen auszubrechen, sich nur als neue Form der Anpassung realisieren ließe und erst recht tödlich endet. Freilich bleibt es bei Fontane lediglich beim Gedanken an ein Ausbrechen, und der Tod ist mild: Der Selbstmord des jungen Grafen in Stine ist ein resigniertes, aber auch versöhntes Einschlafen; die Duelle in Cécile und Effi Briest haben etwas Rituelles, fast Spielerisches; selbst Krankheit und Tod wie in Cécile, Stine, und erst recht in Effi Briest werden umsorgt und gepflegt erlitten, verstanden und akzeptiert. Man könnte bei Fontane fast von ‚Metonymien des Todes‘ reden. Und doch sind sie ein leidendes Plädoyer für das Atmen- und Leben-Wollen der Menschen schlechthin. Auch so aber wird auf das viel drastischer erzählte naturalistische Paradigma immer noch deutlich verwiesen. Der männliche Held in Theodore Dreisers Sister Carrie (1900), oder die Protagonistin in Emile Zolas L’Assommoir (1877) sind allerdings aus ihren angestammten sozialen Räumen ausgebrochen: nach New York und nach Paris. Aber das ist eine neue Form der Anpassung, und der soziale Abstieg, den sie mit sich bringt, wird langsam und detailliert ausgearbeitet. Sie sterben im Obdachlosenasyl und im Verschlag unter der Treppe des großen Mietshauses. Dieser Tod ist ein Protest ganz ohne subjektive Versöhnung. Wenn er Perspektiven eröffnet, dann nur im radikalen Verweis auf andere und anderes, das es im weiteren Œuvre dieser Autoren dann freilich auch gibt. Bei Fontane dagegen lässt sich über alles reden, lässt sich alles bedenken und aus allem lernen.

      Betrachten wir andere Konfliktkonstellationen: Lene und Stine bei Fontane werden von Standesvorurteilen beiseite geschoben, Cécile und Lene werden von moralischen Gewohnheiten beleidigt, wenn auch leichthin, im gesitteten Gespräch, ja im Plauderton. Effi Briest wird verletzt, weil man sie nicht versteht, nicht verstehen will. Thomas Hardys Tess of the d’Urbervilles (1891) aber wird von Standesprivilegien vergewaltigt und von Unverständnis und moralischen Vorurteilen in ihrer Identität nahezu zerstört. Sie stirbt nicht versöhnt, sondern wird hingerichtet. Umso kräftiger tritt diesen sozialen Konflikten das Thema der ‚reinen Natur‘ entgegen (A pure woman, so der Untertitel). Denn hier gibt es eben auch eine nährende, bergende, zugleich freilich wuchernd vitale, ja wilde Natur, bis hin zu grausam ‚natürlichen‘ Szenen („the rat-catching“ in Kap. 48 etwa) und bis hin zum ‚mörderischen‘ Aufstand der Kreatur am Ende.

      Sich als Ehepartner ‚verkaufen‘ zu müssen, ist für Botho in Irrungen, Wirrungen etwas zum Lachen: laut, albern, und dies immer wieder – darin freilich verräterisch –; in Effi Briest wird es sogar nur ein vermeidbares Missverständnis bedeuten, wie die Eltern am Ende einsehen. In Giovanni Vergas Romanen dagegen wird die Qual der Anpassung langsam und intensiv dramatisiert: als unwiderstehlicher, täglich neuer materieller Druck für die Tochter der armen Fischer in I Malavoglia (1881), oder als Sog für den Aufsteiger in Maestro Don Gesualdo (1889), in beiden Fällen als unerbittlich fortschreitende Zerstörung des humanen Selbstbewusstseins. Man verfolgt ganz direkt, wie das Herz gegen Druck und Sog materieller Bedingungen „nicht aufkommen“ kann (Stine) „il cuore stretto in una morsa / das Herz in einen Schraubstock eingespannt“, heißt es bei Verga –,24 und wie zugrunde gehen wird, wie es in Irrungen, Wirrungen heißt, wer, wie Gesualdo, sich anpasst. Doch geradezu mythisch steht hinter allem bei Verga die Präsenz der in ihren natürlichen Rhythmen, auch denen der Arbeit, lebenden sizilianischen Landschaft und erst recht das große, machtvolle Meer. Das freie, offene Meer – „il mare non ha paese / das Meer hat keinen Ort“25 – das nicht ‚determinierte‘ Meer spricht in I Malavoglia immer mit hinein, lauter als der Wald in Cécile (der Harz), oder die Flussauen in Irrungen Wirrungen („Hankels Ablage“), oder die Dünenlandschaft in Effi Briest, viel lauter gewiss, aber auch bei Fontane ist diese ‚Stimme der Natur‘, wenn ich so sagen darf, immer zu hören.

      Der Autor nun, der ganz gegensätzlich orientierte naturalistische Paradigmen, die Antithesen der ‚Natur‘ im Naturalismus, vielleicht am konsequentesten gegeneinanderstellt, ist Emile Zola. Die Erfolge und Katastrophen innerhalb einer weit verzweigten Familie unter dem Zweiten Kaiserreich erreichen die höchsten politischen Intrigen am Kaiserhof und in der Regierung oder etwa die der Börsen – und Immobilienspekulation, die Romane dringen aber auch vor in die Tiefen der Arbeitswelt in den Bergwerken, auf den Großbaustellen oder den Eisenbahnen, und führen hinein in die letzten Winkel von Alkoholismus, Prostitution oder Krankheit. Zola begreift – aber das ist eben nur eine seiner Orientierungen – in seinem antithetisch-monistischen Weltbild die Realität seiner Zeit als Natur im Sinne Darwins oder des Positivismus:26 als Überlebenskampf der Evolution, wobei freilich immer auch die Selbstheilungskräfte der erzählten Gesetzmäßigkeiten, die starken und oft auch freundlichen ‚Triebe‘ weiter verfolgt werden. Andererseits aber – und das wurde oft übersehen, schon von Fontane selbst – ist Zola unter den Naturalisten vielleicht der am tiefsten gläubige Rousseauist und Romantiker. Immer wieder trifft man auf groß und farbig ausgemalte Bilder ‚mütterlicher‘, nährender, bergender, zyklisch