Jürg Steiner

Bern - eine Wohlfühloase?


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Dank geht an unzählige Stadtberner Journalistenkolleginnen und -kollegen aller Medien, die mit ihrer Arbeit zum kollektiven Gedächtnis dieser Stadt beitragen, von dem ich profitiert habe. Ein spezieller Schatz ist das aktualisierte und frei zugängliche Onlinearchiv, das der Journalist Fredi Lerch mit seinen Texten führt. Stefan von Bergen und Christoph Hämmann, Redaktionskollegen bei der «Berner Zeitung», lasen Teile des Manuskripts gegen, ermutigten mich und bewahrten mich vor Fehlschlüssen.

      Wer schreibt, kennt das bange Begleitgefühl, dass sich die eigene Gedankenwelt als Bluff entpuppt, als peinliche Selbstüberschätzung, als sinnloser Vorstoss in den Nebel, nachdem man den Zeitpunkt für den Rückzug verpasst hat. Meine Familie – meine Partnerin Manuschak Karnusian und unsere Kinder Chahan und Taline Karnusian – holte mich liebevoll mit einem einfachen Gedanken zurück auf den Boden der Zuversicht: Man bereut nur, was man nicht gemacht hat. Und nicht, was man gemacht hat.

      Jürg Steiner

      Juni 2020

      Der rot-grüne Planet

      Wie die Linke zuerst die Stadt belebt und dann das urbane Lebensgefühl bewirtschaftet

      Am 6. Dezember 1992, dem Tag, an dem die Schweiz Nein zu einem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sagte und in der Stadt Bern das rot-grüne Zeitalter begann, genau an diesem Sonntag tauchte die Live-CD «Wintertour» der Berner Rockband Züri West erstmals in den Albumcharts der offiziellen Schweizer Hitparade auf. «Wintertour» war ein Album mit Fotos in Schwarzweiss. Man sah die Band fröstelnd im Schneetreiben, unterwegs in den Bergen, lümmelnd in einer Turnhalle. Die Songs von Sänger Kuno Lauener, sie handelten vom geplatzten Traum, aus Bümpliz nach Casablanca abzuhauen. Von einem Mann, der traurig war wie ein Saxofon, nachdem die Freundin das Weite gesucht, aber ihren Duft auf dem Kopfkissen hinterlassen hatte. Und vom sehnsüchtigen Gefühl, «wenn i z’bärn am fänschter schtah und d’sunne grad im meer versinkt».

      Manchmal klang in den Liveaufnahmen die junge, kochende Wut der bleiernen achtziger Jahre an. Züri West vertonte sie im Lied «Flachgleit» über die Räumung des Hüttendorfs Zaffaraya, damals auf dem Gaswerkareal im Mattequartier, oder in «Hansdampf», dem Song zur Besetzung der Dampfzentrale. Lauener besang auf «Wintertour» das traurige, schwermütige Bern der Vor-Handy-Zeit. Eine Stadt, in der man an kalten Abenden am Küchentisch Carambole spielte und hoffte, die Frau gegenüber bleibe da über Nacht. Ein unharmonisches Bern der einsamen Herzen, der hoffnungsvollen Träume, der getrennten Welten.

      Stadt der Lederjacken und der Hipster-Kluft

      27 Jahre später, im November 2019, trat das erfolgreiche Berner Hip-Hop-Duo Lo & Leduc, das seine Karriere vom rot-grünen Alternativquartier ­Muri­­- feld aus gestartet hatte, im noblen Kulturcasino auf. Die Berner Burger­gemeinde hatte das denkmalgeschützte Haus, das ihr gehört, eben für 74 Millionen Franken renovieren lassen und als Direktor Kochweltmeister Ivo Adam engagiert, der künftig für angesagte Kulinarik sorgen sollte. Zur Eröffnung gaben Lo & Leduc unter dem Titel «Über ds Chrütz» drei vom jungen Komponisten Sebastian Schwab arrangierte gemeinsame Konzerte mit dem Berner Symphonieorchester, das sonst Beethoven, Rossini und Mozart spielt.

      Doch an diesem Abend groovte der klassische Klangkörper zur Hip-Hop-Hymne «079», und die schlohweissen Haare von Chefdirigent Mario Venzago federten unter den monumentalen Kronleuchtern mit dem Beat von Lo & Leduc um die Wette. Die musikalischen Welten von Hip-Hop und Klassik verschmolzen zu einem kommerziellen High-End-Erlebnis. Fast zu harmonisch und zu brav für urbane Bedürfnisse, merkten Berner Kulturjournalisten kritisch an.

      Die beiden Momentaufnahmen – Züri West, frierend in schwarzen Lederjacken vor einem Ladenlokal, Lo & Leduc in farbiger Hipster-Kluft, geherzt von Stardirigent Venzago im Frack – fangen den Wandel des Lebensgefühls ein, den die Stadt Bern in der Ära durchlief, die politisch von Rot-Grün geprägt wurde. Die herzliche Umarmung zwischen linker Popmusik, aristokratischer Burgergemeinde und klassischer Hochkultur, sie wäre dreissig Jahren zuvor undenkbar gewesen oder ein handfester Skandal.

      60 647 Entscheide fällte die Berner Stadtregierung zwischen 1993 und 2019, wie der städtische Informationsdienst festhält. Man kann sie als politische Schritte auf dem rot-grünen Weg sehen, den die Stadt Bern in dieser Zeit zurücklegte. Die regierenden Linken verstehen die positive Entwicklung der Stadt gerne als Verdienst der eigenen politischen Weitsichtigkeit. Und verdrängen, dass sie auch profitiert haben von vorteilhaften äusseren Bedingungen. Rot-Grün-Mitte holte sich das Vertrauen der Stimmbevölkerung zwar in einer tiefen Krise, aber ab Ende der neunziger Jahre blies dem Bündnis das wirtschaftliche Gunstklima in der Schweiz viel Wind in den Rücken. Die mit der EU vereinbarte Personenfreizügigkeit förderte ab 2002 die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, die sich häufig in den Städten niederliessen – in Bern etwa rund um das Inselspital – und die Steuerkraft erhöhten. In diesen fetten Jahren verfestigte sich der wacklige politische Coup von 1992 zur dauerhaften Machtübernahme.

      Stadt der blanken Nerven

      Als die Stadt Bern am 6. Dezember 1992 erstmals rot-grün wählte, ahnte niemand, dass daraus mehr würde als ein kurzer Spuk. Aber es wurde die aus damaliger Sicht unvorstellbare Geschichte der bürgerlichen, bedächtigen Verwaltungsstadt, die sich in eine progressive urbane Hochburg verwandelte. Mit Ausnahme von Lugano sind alle Schweizer Grossstädte rot-grün regiert, aber keine von ihnen hat sich seit 1992 so weit nach links bewegt wie Bern.

      Die rot-grüne Erfolgsgeschichte inmitten des durch und durch bürgerlichen Kantons Bern mutet an wie ein strategisches Meisterstück. In Tat und Wahrheit war sie eine oft zufällige Abfolge von Geistesblitzen und Fehltritten, von Fleiss und Nachlässigkeit, von Ehrgeiz und Erniedrigung. Mitunter ging es im Erlacherhof, im noblen Sitz des Stadtpräsidenten, in der ­rot-grünen Ära nicht anders zu als an einem Königshof. Man rang und ringt mit bösen Intrigen, listigen Winkelzügen, kleineren und grösseren Gemeinheiten um Einfluss. So, als hätte man den Beweis erbringen wollen, dass auch Linke bereits auf der Stufe Lokalpolitik nicht davor gefeit sind, der Versuchung und der Bequemlichkeit der Macht zu erliegen.

      Im Dezember 2019 las der preisgekrönte, umstrittene Schriftsteller Lukas Bärfuss in der Rössli-Bar der Reitschule vor vorwiegend jungem Publikum aus seinem Werk. «Wi isch dr nöi Stapi?», fragte er nach der Bierpause beiläufig und meinte den seit 2017 regierenden Grünen Alec von Graffenried. «Scheisse», tönte es grob zurück. Bärfuss schwieg. So kann es sich anhören im links regierten Bern, das der Reitschule seit bald dreissig Jahren wohlgesinnt ist. Unter der oberflächlichen Harmonie des rot-grünen Wohlgefühls grassieren Neid und Missgunst, so dass beim Regieren und Regiertwerden auch persönliche Verletzungen, Rachegefühle und unverdauter Ärger mitwirken.

      Bern, vor dreissig Jahren eine steife, verunsicherte Stadt mit sozialen, finanziellen und ökologischen Problemen, strotzt vor Sauberkeit, Lebendigkeit und Selbstbewusstsein, das bisweilen in Selbstüberschätzung kippt. Das ist, in einem Satz, der Leistungsausweis von Roten und Grünen seit 1992. Dafür wurden sie politisch überproportional entschädigt. Je länger sie an der Macht waren, desto deutlicher bestätigten die Stimm- und Wahlberechtigten den linken Kurs. Die Kehrseite: Rot-Grün konnte sich in den letzten fast dreissig Jahren Skandale, Peinlichkeiten und Unterlassungen leisten, ohne dass die Vormachtstellung gefährdet wurde.

      «Was sich veränderte, als Bern plötzlich von einer Rot-Grün-Mitte-Mehrheit regiert wurde, versteht man nur, wenn man weiss, wie es vorher war», sagt der Filmemacher, Journalist und Fotograf Bernhard Giger, Leiter des Kornhausforums. Giger hat sich künstlerisch und journalistisch intensiv mit dem Bern vor und nach der rot-grünen Wende befasst. In seinem Spielfilmerstling «Winterstadt» von 1981 sah man eine finstere, unterkühlte Stadt, durch die nur wenige Menschen schlichen, und die einzigen Orte, an denen widerspenstiges Leben keimte, befanden sich unter der Erde, in den Altstadtkellern der Nonkonformisten.

      Stadt des Lichterlöschens

      Die klaren Feindbilder aus dem eben erst beendeten Kalten Krieg klebten