Jürg Steiner

Bern - eine Wohlfühloase?


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      Bereits 1987 hatten Öko-Bewegte, AKW-Gegner, Dritte-Welt-Aktivisten, Feministinnen und Marxisten jeder Färbung in der «Inneren Enge» in Bern das Grüne Bündnis (GB) gegründet. Es war ein unkonventionelles politisches Start-up, mehr Bewegung als klassische Partei, dem es rasch gelang, den Grossteil der politischen Seelen links der SP zu bündeln. Die Idee der permanenten Revolution, sie blieb bestehen, jedoch bloss als ferner Traum. Nach kritischer Reflexion der eigenen Geschichte waren die geläuterten Linksgrünen bereit, den Marsch durch die Institutionen in Angriff zu nehmen, und zwar ungewohnt entschlossen und machtbewusst. Jetzt, hier, in Bern.

      «Dass links der Mitte alles in Bewegung war, viele Leute neue politische Identitäten suchen mussten und bereit waren, über ihren Schatten zu springen, förderte unsere Bereitschaft, über ein Bündnis bis in die Mitte nachzudenken», erinnert sich Peter Sigerist, der zu den Gründern sowohl des Grünen Bündnisses wie der RGM-Koalition gehörte. Sigerist kam von sehr weit links, er hatte den RML/SAP-Ableger in Bern aufgebaut, und natürlich wurde sein Telefon vom schweizerischen Nachrichtendienst abgehört, wie er später in seiner Fiche lesen konnte.

      Strategisch waren ehemalige Trotzkisten wie Sigerist bestens geschult. In seinem Fall kam auch ein Flair für kreative List hinzu. Er war es, der sich in den siebziger Jahren, offiziell als Vertreter des Veritas-Verlags, in ein baufälliges Haus an der Neubrückstrasse 17 vis-à-vis der Reitschule einmietete. Das Haus gehörte der Berner Uniformfabrik Luginbühl, und weil Sigerist bei der Vertragsunterzeichnung keine Risiken eingehen wollte, nahm er einen Kollegen mit, der extra einen Luginbühl-Eisenbahnermantel angezogen hatte und die Unterschrift unter das Mietverhältnis leistete. Es lief rund. Das knarrende, nicht immer wasserdichte und mitunter von Mäusen heimgesuchte Häuschen wurde zum Epizentrum von Berns linksalternativer Politszene. Auch darum, weil die ausgebufften Alttrotzkisten und -marxisten 1991 im RGM-Projekt die einmalige Chance erkannten, sich trotz noch kleiner Wählerbasis Zugang zum politischen Machtzentrum zu verschaffen.

      Die Konstruktion des Bündnisses nötigte den Beteiligten nervenaufreibende Aufbauarbeit ab, wie sie wohl nur gescheiterte Ex-Revolutionäre zu leisten bereit waren. Ein taktisches Meisterstück war es, den Aufbau der Koalition an ein externes Team von hochkarätigen, parteilosen Beratern auszulagern, bestehend aus dem Journalisten Heinz Däpp, dem Politologen Werner Seitz und der Gleichstellungsbeauftragten Claudia Kaufmann, die später zuerst Generalsekretärin von SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss und danach Stadtzürcher Ombudsfrau wurde.

      Der Druck auf die Mitte

      Lange elf Monate dauerten die Verhandlungen, ehe das Gerüst stand. «Wir haben Gespräche geführt ohne Ende», sagt Heinz Däpp bei einem Treffen in seiner Altstadtwohnung, «im Rückblick frage ich mich, woher wir die Energie nahmen, uns das anzutun.» Werner Seitz hatte die Wende punktgenau vorausberechnet, unter der Bedingung, dass die massgeschneiderte Koalition zwischen den ungleichen Partnern – die SP war rund zehnmal so stark wie die kleinen Mitteparteien – zustande kam.

      Das ehrenamtliche Beratertrio war laut Heinz Däpp «hundertprozentig sicher, dass der Coup gelingt». Trotzdem gab es hartnäckigen internen Widerstand, namentlich aus der SP. Der spätere SP-Nationalrat Peter Vollmer zum Beispiel fetzte sich mit Parteipräsident Hans Stucki in der Zeitung «Bund» in einem heftigen Streitgespräch, in dem er kritisierte, die SP liefere sich den Bündnispartnern unter ihrem Wert aus und nutze ihr Potenzial nur ungenügend.

      Den Druck auf die politische Mitte orchestrierten die RGM-Initianten mit einer eleganten Argumentation. Angesichts der Wirtschaftskrise stehe ein erbitterter Verteilkampf bevor. «Die Zeit der politischen Mitte ist vorbei», erklärte Seitz in der «Berner Zeitung», «wer mit dem Bürgerblock nicht zufrieden ist, muss bereit sein, ihn zu kippen.» Und das sei nur mit der linken Koalition möglich: «Sonst sind die kleinen Mitteparteien politisch erledigt.» EVP und LdU liessen sich weichklopfen, nicht mehr Zünglein an der Waage spielen zu wollen, sondern sich nach links zu bekennen.

      Dass er als der Unabhängigkeit verpflichteter Journalist bei diesem politischen Projekt mitgemacht habe, «betrachte ich in der Rückschau als meinen Sündenfall», sagt Heinz Däpp, dessen Frau, Marianne Jacobi, zu den führenden Köpfen der SP-Stadtratsfraktion gehörte. Aber es habe ihn einfach zu stark gereizt, zum Wandel in der Stadt Bern beizutragen.

      Am Ende des RGM-Gründungsmarathons entstand eine Wahlplattform mit der Bezeichnung «Gemeinsames Handeln für Mensch und Umwelt», gelinde gesagt der umfassendste je für die Stadt Bern formulierte politische Wunschkatalog. Gefordert wurden Dauerbrenner wie preisgünstige Wohnungen, Tempo 30, eine verkehrsfreie Innenstadt, mehr Veloinfrastruktur, mehr Gleichstellung, mehr Kultur – der auf die Stadt Bern herunterdeklinierte grösste gemeinsame Nenner rot-grüner Weltanschauung. Inklusive Steuererhöhung. «Laut meiner Erinnerung waren wir uns mit den Parteien über die politischen Inhalte relativ rasch einig», erzählt Heinz Däpp.

      Das Opfer der SP-Frauen

      Personelle Fragen hingegen brachten das Beraterteam an den Rand der Verzweiflung. Ehrgeiz und Empfindlichkeit erwiesen sich als schwer beeinflussbar, und Heinz Däpp machte eine Erfahrung, die ihm auch bei seiner späteren Tätigkeit als Satiriker ständig begegnete: «Viele Linke sind unglaubliche Mimosen. Gut im Austeilen. Weniger gut im Einstecken.»

      Der heikelste Mosaikstein bei der personellen Besetzung der Gemeinderatsliste bildete der Anspruch der SP-Frauen. Sie pochten – nach dem Gret-Haller-Debakel 1988 – auf eine Vertretung und hatten mit Grossrätin Ruth-Gaby Vermot eine kantige Kandidatin. In den Plänen der RGM-­Strategen war jedoch kein Platz für sie. Weil die drei Bisherigen (die SPler Klaus Baumgartner und Alfred Neukomm sowie Joy Matter vom Jungen Bern) erneut antraten, blieb auf der Fünferliste nur je ein Listenplatz links und rechts der SP.

      Parteipräsident Hans Stucki erinnert sich an «ganz schwierige Momente und hitzige interne Diskussionen», wenn er daran zurückdenkt, wie die SP-Frauen zum Verzicht bewegt wurden. Der aufgebaute Druck auf Ruth-Gaby Vermot war subtil: Hätte sie an ihrer Kandidatur festgehalten, wäre sie als Verhindererin der Wende dagestanden. Oder sie hätte Joy Matter aus dem Amt gedrängt. Vermot konnte am Schluss gar nicht anders als einsehen, dass «dies nicht ihre Stunde ist», wie SP-Sekretär Willi Zahnd das Frauenopfer in verbale Watte kleidete.

      Ruth-Gaby Vermot kritisierte Anfang 1992 öffentlich, dass die SP-Führung die Frauen praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. «Natürlich war ich sehr verärgert und enttäuscht. Langfristig sind bei mir aber keine Verletzungen zurückgeblieben. Ich habe keine schlechten Gefühle, Rot-Grün-Mitte wurde für Bern zur Erfolgsgeschichte», hält sie im Rückblick fest. Vermot hat ihre politische Karriere im Nationalrat und im Europarat fortgesetzt, wo sie sich vermutlich wohler gefühlt habe als in einem allfälligen Gemeinderatsamt, erklärt die dezidierte Frauen- und Asylpolitikerin, die während ihrer Amtszeit vorübergehend polizeilich geschützt werden musste.

      Im Februar 1992 komplettierten wie vorgespurt Otto Mosimann, langjähriger Präsident der Stiftung für Drogenarbeit Contact, für die EVP sowie Therese Frösch, vor allem beim Spitalpersonal aktive Gewerkschafterin, für das Grüne Bündnis die RGM-Fünferliste für den Gemeinderat. Frösch, die sich in der linken Szene als Mitorganisatorin des Frauenstreiks von 1991 einen Namen gemacht hatte, flog unter dem Radar der breiten medialen Öffentlichkeit. Niemand unter den Meinungsmachern konnte sich eine Stadtregierung mit der debattierfreudigen Gewerkschafterin vorstellen.

      Hans Kaufmann, bürgerlich denkender Lokalchef der «Berner Zeitung» und späterer Medienverantwortlicher des bernischen Gewerbeverbands, prophezeite der Stadt das Abdriften «ins politische Abseits», zumal er auf der rot-grünen Kandidatenliste ausser Klaus Baumgartner niemanden mit Regierungstauglichkeit ausmachen konnte. Im Falle eines linken Wahlsiegs sah Kaufmann Bern in der Hand rot-grüner Fundamentalisten und Randgruppen, die bloss für weiteren «Abfluss wirtschaftlicher Substanz» sorgen würden.

      Auf der anderen Seite des politischen Spektrums löste das Zustandekommen der RGM-Liste Euphorie aus. Blaise Kropf, seit 2017 Co-Generalsekretär in der Präsidialdirektion der Stadt Bern, gehörte 1992 zu den Gründungsmitgliedern der Jungen Alternative (JA!), der Nachwuchsabteilung des Grünen Bündnisses. Eine