Jürg Steiner

Bern - eine Wohlfühloase?


Скачать книгу

WG lebte, den umwehte den Hauch des Staatsfeinds, weil man es damit vielleicht beim Nachrichtendienst auf eine Fiche geschafft hatte. Demonstrationen arteten regelmässig in Tränengasschlachten aus. Der öffentliche Raum war besetzt, aber nicht unbedingt von Menschen. Auf dem Bundesplatz parkierten 95 Autos, die nur für den Wochenmarkt, Staatsempfänge und gelegentliche Demonstrationen verbannt wurden. Autoplantagen belegten auch den Waisenhausplatz und die Schützenmatte. Die Bundesterrasse, die Münsterplattform, die Kleine Schanze waren das Revier von Drogenabhängigen, Alkoholikern und Prostituierten. Und wenn man mit Kindern einen Spielplatz aufsuchte, vergewisserte man sich, dass keine gebrauchten Spritzen im Sandkasten lagen.

      Die 24-Stunden-Gesellschaft und ihre frivole Konsuminfrastruktur waren weit entfernt. Der Moonliner etwa, das Nachtbussystem, existierte noch nicht einmal als Idee, wobei ein vollwertiger Ausgang ohnehin meist vor Mitternacht endete. Man sass bei ein paar Bieren im Restaurant Falken an der Münstergasse, bis maximal 22.45 Uhr, und wer es wirklich wissen wollte, schlich danach in die «Glocke» für eine Portion Pouletflügeli und in die Kreissaal-Bar für einen Absacker. Am Wochenende konnte man in die 1968 entstandene Tanzdiele in der Matte oder den Gaskessel. Ansonsten: Lichterlöschen.

      Dunkel eingetrübt waren die wirtschaftlichen Aussichten, nicht nur in der Stadt. Im Jahr 1992 ging der Kanton Bern in die Knie wie ein schwer getroffener Boxer. Die Berner Kantonalbank hatte im Kreditgeschäft jahrelang zu viel riskiert, kündigte einen Abschreiber von bis zu 3,5 Milliarden Franken an und erbettelte Staatshilfe vom Kanton. Eine Situation, vergleichbar mit jener Griechenlands während der Euro-Krise. Über zehn Jahre lang engte die Überlebensübung nach dem Kantonalbankdebakel den Spielraum für Inves­titionen und Innovationen ein und warf Bern weit zurück. Der Kanton sparte, auch auf Kosten der Stadt.

      Diese hing ihrerseits in den Seilen: Sie verlor schrittweise rund 40 000 Einwohnerinnen und Einwohner an die steuergünstigen Agglomerationsgemeinden des sogenannten Speckgürtels und fand sich als «A-Stadt» wieder, in der sich Arbeitslose, Abhängige, Alte und Auszubildende konzentrierten. Sie kosteten viel und brachten wenig Steuererträge. Finanziell befand sich die Stadt Bern, zusätzlich gebeutelt durch eine heftige Wirtschaftskrise, im freien Fall. 1992, als die damalige bürgerliche Regierung ihr letztes Budget präsentierte, veranschlagte sie im ersten Anlauf ein horrendes Defizit von 99,6 Millionen Franken, das danach auf vergleichsweise milde 70 Millionen korrigiert wurde.

      Stadt der Birkenstöcke

      So grau und perspektivlos fühlte sich das Leben in der Stadt Bern an, als sich die rot-grüne Zeitenwende anbahnte. Es wirkte wie eine Frischzellenkur, als plötzlich Freaks in farbigen T-Shirts und ausgelatschten Birkenstöcken nicht nur Demos organisieren und Transparente sprayen, sondern in die institutionelle Politik vordringen wollten. Sie zimmerten die abenteuerlichste politische Koalition, die es in der Schweiz bis dahin gegeben hatte. Ein Bündnis, das von den geläuterten Kommunisten links aussen bis zu den eingemitteten Christen der Evangelischen Volkspartei (EVP) reichte, ein Spagat, bei dem man sich eigentlich nur eine langwierige Zerrung holen konnte.

      Das gewagte Konstrukt erhielt den spröden Namen Rot-Grün-Mitte (RGM) und drohte ständig auseinanderzubrechen. Das Progressivste an RGM war die seltene Furchtlosigkeit vor dem Scheitern. Man stritt vom ersten Tag an öffentlich, ohne Rücksicht auf Verluste, und hörte damit auch dann nicht auf, als man am 6. Dezember 1992 die bürgerliche Mehrheit von der Macht verdrängte.

      Die rot-grünen Pionierinnen und Pioniere, allen voran die überraschend gewählte Linksgrüne Therese Frösch, verpassten der Stadt einen Energieschub. Sie begannen mitten in der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre vom urbanen Aufbruch zu reden, von Dingen, die noch als unrealistische linke Ideologie galten, von Verkehrsberuhigung, von Kindertagesstätten, vom Ausbau des öffentlichen Verkehrs, von Kulturoffensiven, von Gleichstellung, von sozialem Wohnungsbau, von der Integration von Ausländerinnen und Ausländern. In der Praxis jedoch setzten sie sehr oft eine Politik um, die auch bürgerliche Bedürfnisse befriedigte. Rot-Grün machte die Stadt trotz Sparkurs mit hohem Einsatz von Steuergeldern sauber und sicher und für die Menschen wieder attraktiv. Und zwar ohne, dass das multikulturell gewordene Bern der Sehnsucht nach kleinbürgerlichem Quartieridyll in die Quere kam.

      Keine Stadt der Schweiz hat mehr Begegnungszonen mit der Höchstgeschwindigkeit von zwanzig Kilometern pro Stunde eingerichtet als Bern. Die Quartiere sind zu ruhigen Wohnzonen geworden, in denen die Kirchenglocken auf einmal zu laut läuten. Immer häufiger stören auch die Nebenwirkungen des aufgeblühten Nachtlebens. Christa Ammann, Leiterin von Xenia, der Beratungsstelle für Sexarbeitende, und Politikerin der Alternativen Linken, ist links von Rot-Grün-Mitte unterwegs, und wenn man sie zum Kurs der politischen Mehrheit fragt, bringt sie ihn auf eine kritische Formel: Er sei ein «Wellnessprogramm für den oberen Mittelstand».

      Rot-Grün erwuchs von bürgerlicher Seite immer weniger Widerstand, die wilden Jahre des Machtwechsels flossen über in eine Routine der Machterhaltung. Innerhalb des Bündnisses waren immer häufiger berechenbare Synchronschwimmerinnen und -schwimmer am Werk und kaum noch eigen­­willige Köpfe. Als politisches Ziel rückte die Steigerung der Lebensqualität in den Fokus. Aber die Frage, wie sie finanziert wird, blieb im Hintergrund. Die Liste der Empfänger städtischer Gelder wurde länger – und damit auch die Front derer, die sich wehrten, wenn die Stadt plötzlich den Sparstift ansetzte.

      Es ist nichts Neues, dass die Beziehung der Stadt Bern zum wirtschaftlichen Denken quasi genetisch belastet ist. Im fernen Jahr 1747 beschloss die exklusive städtische Oberschicht erlauchter Familien, die über den damals noch mächtigen Stadtstaat Bern herrschte, ein Unternehmerverbot, faktisch eine Trennung von Wirtschaft und Politik. Kaufmänner durften im patrizischen Bern – anders als in der Zunftstadt Zürich – nicht gleichzeitig Staatsmänner sein, weil man vermeiden wollte, dass privat erwirtschafteter Reichtum zu politischem Machtgewinn führte. So blickten im Alten Bern die Adelsfamilien aus der Politik herab auf das unternehmerisch tätige Bürgertum, das sich mit Banalitäten wie Geldverdienen herumschlug.

      Es wäre sicher falsch, eine direkte Linie vom erstarrten Bern der Patrizier im 18. Jahrhundert zum dynamisierten Bern der rot-grünen Gegenwart zu ziehen. Aber die Frage, wie man den Wohlstand sichert, der Stadtentwicklung überhaupt erst möglich macht, wird heute oft genauso wenig zu Ende gedacht wie damals.

      Stadt des Hamsterrads

      «Das können wir uns leisten», sagte Stadtpräsident von Graffenried, als der Gemeinderat 2018 beschloss, das für eine Stadt von der Grösse Berns respektable jährliche Kulturbudget von 32 Millionen Franken um weitere 2,3 Millionen zu erhöhen. Das hochstehende Kulturangebot sei ein zentraler Standortfaktor, der die Bundesstadt auf wirtschaftlichem und demografischem Wachstumskurs halte. Von Graffenried argumentierte wie ein Wirtschaftskapitän, der den Expansionskurs seiner Firma erläutert. Nur, dass der Stadtpräsident natürlich mit Steuergeldern operiert.

      Als das Mitte-links-Bündnis vor knapp dreissig Jahren in der schrumpfenden Bundesstadt die Mehrheit übernahm, traute man seinen Exponenten kaum zu, eine Bilanz lesen zu können. Aber unter ihrer Führung blühte die Stadt wieder zum Wirtschaftsmotor des sonst klammen Kantons Bern auf. Man muss sogar sagen: Ohne die auf Hochtouren laufende rot-grüne Stadt würde der bürgerliche Kanton, der nach wie vor auf eine jährliche Zahlung von rund einer Milliarde Franken aus dem nationalen Finanzausgleich angewiesen ist, noch schlechter dastehen.

      Die Stadt Bern gibt viel Geld aus, aber sie nimmt auch viel Geld ein. Rund zwei Milliarden Franken an Steuern pro Jahr zum Beispiel, die jedoch zu drei Vierteln an Kanton und Bund gehen. Immer wieder kokettierten rot-grüne Politiker mit einer theoretischen Rechnung: Man könnte die Stadt und die eng umliegenden Agglomerationsgemeinden in einen Halbkanton zusammen­fassen, der ohne die Last des ländlichen Restkantons so dynamisch wäre, dass er mit Schweizer Steuerparadiesen wie Zug mithalten könnte.

      Es ist jedoch die Ironie der Stadtberner Erfolgsgeschichte, dass ausgerechnet die an sich wachstumskritischen Roten und Grünen darauf angewiesen sind, die von ihnen in Gang gebrachte Wachstumsmaschine Stadt am Laufen zu halten. Der hochgefahrene soziale, ökologische und infrastrukturelle Full-Board-Service lässt sich nur finanzieren, wenn die Bevölkerung und damit die Steuererträge zuverlässig