die Wahrheit dieser politischen Wende übertönte: Streng genommen war sie gar keine Wende. Die Stadtberner Linke, die sich erstmals zu einer extrabreiten Rot-Grün-Mitte-Einheitsliste vom Grünen Bündnis (GB) bis zur Evangelischen Volkspartei (EVP) und zum Landesring der Unabhängigen (LdU) vereinigt hatte, holte bei den Gemeinderatswahlen bloss 48,9 Prozent der Stimmen. Die Mehrheit der Wählenden in der Stadt Bern sprach sich für die Kandidierenden rechts der Mitte aus. Bürgerliche und Rechts-aussen-Parteien erreichten gemeinsam 51,1 Prozent, allerdings aufgeteilt auf insgesamt fünf separate Kandidatenlisten.
Politik für Mathematiker
Man muss ein bisschen rechnen, wenn man die verwinkelte Politik der Stadt Bern verstehen will, denn sie ist wahlrechtlich von zwei Besonderheiten geprägt. Erstens: Bern wählt die Regierung, anders als die meisten anderen Gemeinden, seit 1895 im Proporzverfahren. Gewählt ist also nicht die Person mit den meisten Stimmen, sondern Mandate werden gemäss den erreichten Stimmenanteilen an die Parteien verteilt, ins Amt kommen die Bestgewählten auf deren Listen. Zweitens: Die Gemeindeordnung untersagt Listenverbindungen. Das zwingt die Parteien dazu, Bündnisse zu bilden und Einheitslisten zusammenzustellen, um die Wahlchancen zu optimieren. Je breiter die Koalition, desto besser.
Die beiden Besonderheiten sind der Grund dafür, dass die Parteistrategen alle vier Jahre vor den Wahlen Monate damit verbringen, Wähleranteile zu berechnen und Bündnisverhandlungen zu führen. Man kann Topkandidaten haben und eine formidable Politik machen – es nützt nichts. Ohne Bündnis ist in Bern kein Blumentopf zu gewinnen. Und wenn die Wahlen vorbei sind, besteht die Stadtberner Politik auch darin, minutiös zu überwachen, ob die Gewählten auch ja unter der Fuchtel der Koalition bleiben. Oder ob sie es wagen auszuscheren.
Der entscheidende Wettbewerbsvorteil der Linken war es an diesem 6. Dezember, sehr gut gerechnet zu haben. Dass die Parteien rechts der Mitte auf getrennten Listen angetreten waren und sich die Stimmen deshalb aufteilten, war der springende Punkt. Der geeinten Rot-Grün-Mitte-Koalition reichte es knapp für vier der sieben Gemeinderatssitze, die Bürgerlichen (FDP, SVP, CVP) verloren einen und wurden auf drei Sitze zurückgestutzt. Die Splittergruppen rechts aussen gingen leer aus.
Ehe Vizestadtschreiber Biancone im Erlacherhof ans Mikrofon trat, musste er dem amtierenden SVP-Gemeinderat und früheren TV-Journalisten Marc-Roland Peter also beibringen, dass er abgewählt worden war. Dies hatte er schon vier Jahre zuvor SP-Gemeinderätin Gret Haller mitteilen müssen. Sie hatte sich im Herbst 1987 offen vom gemeinderätlichen Räumungsbeschluss für das Hüttendorf Zaffaraya distanziert und verpasste im Dezember 1988 die Wiederwahl – um 161 Stimmen. Die SP-Wählerschaft zog ihr den weniger prononcierten Parteikollegen Klaus Baumgartner vor, von dem Hallers Entourage geglaubt hatte, er werde ihr nicht gefährlich.
Ohne die für die SP-Frauen aufwühlende Haller-Abwahl und den Sitzverlust der SP hätte es 1992 den Coup von Rot-Grün-Mitte wohl nicht gegeben. Die Schmach rüttelte die Linken wach. Sie begriffen im dritten Anlauf endlich, wie wichtig Arithmetik in der Stadtberner Politik ist. Bereits 1984 waren sie wegen dieses taktischen Fehlers kläglich gescheitert. Damals erreichte das spätere Rot-Grün-Mitte-Lager sogar 53 Prozent der Stimmen, aber es war auf mehrere Listen aufgeteilt. Deshalb blieb die Linke bei drei Sitzen stehen. Das bürgerliche Dreigestirn FDP-SVP-CVP hingegen hatte sich zu einer Einheitsliste mit dem Namen «Vierer mit» zusammengeschlossen. Der Begriff war der Rudersprache entlehnt und meinte die Regierungsmehrheit von vier Sitzen inklusive Stadtpräsidium. Der «Vierer mit»-Liste genügten 39 Prozent der Wählerstimmen zur Eroberung der Regierungsmehrheit.
Auch 1988 machte das zersplitterte Parteienspektrum links der Mitte zusammengerechnet 48,2 Prozent der Stimmen. Weil die Bürgerlichen aber geschlossen im «Vierer mit» ruderten, konsolidierte sich die bürgerliche Formel für den Stadtberner Gemeinderat: Die FDP besetzte zwei Sitze, CVP und SVP je einen. Die linke Minderheit setzte sich aus zwei SP-Männern (Klaus Baumgartner, Alfred Neukomm) sowie einer Vertreterin des linksliberalen Jungen Bern (Joy Matter) zusammen.
Die «lieben Freunde» auf der Linken
Am «historischen» 6. Dezember 1992 passierte politisch in der Stadt Bern fast nichts. Und gleichzeitig sehr viel. Rot-Grün-Mitte legte im Vergleich zu 1988 bloss um die homöopathisch kleine Dosis von 0,7 Prozent Stimmenanteile zu. Aber weil die Linken mit der RGM-Einheitsliste unterwegs waren, während der «Vierer mit» zerbrach, jagten sie mit diesem Minizuwachs den Bürgerlichen die Mehrheit ab.
Die rot-grüne Ära der Stadt Bern begann, ohne dass eine Mehrheit der Wählenden für Rot-Grün eingelegt hatte. Es brauchte – aus linker Sicht – an diesem Tag viel Glück. Aber es war kein Zufall.
Am 27. März 1991, 21 Monate zuvor, setzte Michael Kaufmann, Sekretär der SP Stadt Bern, einen Brief auf an die «lieben Freunde» von «Mitte-Links-Rot-Grün». Man kann dieses Schreiben als Initialzünder für das schweizweit erstmalige Experiment bezeichnen, ein politisches Bündnis von links aussen bis zu den eingemitteten Christen der EVP zu schliessen. Zusammen mit dem Bümplizer Hans Stucki, Präsident der städtischen SP, lud Kaufmann acht politische Parteien und Gruppierungen zu einem informellen Sondierungsgespräch in die Villa Stucki im Monbijouquartier, «das Ziel nicht aus den Augen lassend», wie sich Kaufmann ausdrückte, «die Mehrheitsverhältnisse in der Stadtberner Politik zu verändern».
Die SP spürte – nach der Niederlage von 1988 – den Druck ihres schleichenden Abwärtstrends. Bern hatte – anders als Zürich, Basel, Biel oder Genf – in der Zwischenkriegszeit nie eine richtig rote Phase gehabt, weil der einstigen Arbeiterpartei in der Verwaltungsstadt das Industrieproletariat fehlte. Trotzdem gaben die Sozialdemokraten von 1955 bis 1980 politisch den Ton an, Anfang der sechziger Jahre mit vier Sitzen im Gemeinderat vorübergehend sogar in absoluter Mehrheit. Allerdings ohne den Eindruck einer links regierten Stadt aufkommen zu lassen. Für einen feinen Linksdrall sorgte ab 1960 schon eher das nonkonformistische Junge Bern als in Bern sehr beliebtes Zünglein an der Waage, etwa mit dem populären Pfarrer Klaus Schädelin als Gemeinderat.
Dass die Bürgerlichen 1984 in der Stadt Bern die Regierungsmehrheit übernahmen, war eine Überraschung – und hatte viel mit dem Abbau der SP zu tun, die sich in inneren Richtungsstreitigkeiten, etwa um ihren langjährigen Gemeinderat Heinz Bratschi, selbst zerlegte. Noch Anfang der siebziger Jahre waren die Sozialdemokraten mit einem Wähleranteil von über 40 Prozent die mit Abstand stärkste Partei. Bis 1988 schmolzen aber 17 Prozentpunkte weg. Den Strategen Stucki und Kaufmann war klar, dass sie die SP bündnisfähig machen mussten, um sie in der Stadt Bern zurück an die Macht zu führen.
Parteipräsident Stucki, ursprünglich Fernmelde- und Elektronikapparatemonteur, studierte in Zürich Sozialarbeit und erwarb sein Diplom 1968 zur Zeit der Globuskrawalle. Danach arbeitete er – wie später Barack Obama – in den Armutsvierteln von Chicago, wo er mit den Ideen von Saul Alinsky in Berührung kam, der traditionelle Sozialarbeit als paternalistischen Wohlfahrtskolonialismus kritisierte. Alinsky verfolgte als Pionier einen neuen, demokratischen Ansatz des Community-Organizing von unten mit dem Ziel, die Quartierbevölkerung in die Lage zu versetzen, ihre Probleme selbst zu lösen. Zurück in Bümpliz, stürzte sich Stucki mit diesen Ideen in die lokale Jugend- und Gemeinwesenarbeit.
Michael Kaufmann, ausgebildeter Agronomie-Ingenieur mit Flair für Musik, war einer der vifsten politischen Köpfe der Berner SP. Und weitgehend frei von Berührungsängsten. Jahrelang führte er als Präsident den Reitschulträgerverein IKuR, 1981 gründete er den Chor L’altracosa, den er bis 2014 leitete. Kaufmann war verschiedentlich im Gespräch als Regierungsrats- und Gemeinderatskandidat, doch Samuel Bhend (Kanton) und Alexander Tschäppät (Stadt) standen ihm im Weg. Seine Berufskarriere schlug einen ungewöhnlich weiten Bogen. Er arbeitete als Journalist, Vizedirektor im Bundesamt für Energie und bis zu seiner Pensionierung 2019 als Rektor der Musikhochschule Luzern.
Die Folgen des Mauerfalls
1991 stiessen die Initianten Stucki und Kaufmann in Bern auf eine günstige Konstellation – vor allem im bewegten Biotop links der SP. Linksalternative Splittergruppen trugen zwar für das brave Bern noch gefährliche Namen wie Revolutionäre Marxistische Liga (RML) oder Sozialistische Arbeiterpartei