Anthony Weston

Die Kunst des guten Arguments


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der Ärzte dem zustimmen?). Tatsächlich allerdings müssen Zahlen genauso kritisch überprüft werden wie jede andere Art von Beleg. Schalten Sie Ihr Gehirn nicht aus!

      Nach einer Phase, in der einigen sportlich führenden Universitäten vorgeworfen wurde, studentische Athlet*innen auszubeuten und vom College zu werfen, sobald ihre Berechtigung zur Teilnahme an Wettkämpfen endete, macht nun eine höhere Quote der College-Athlet*innen ihren Abschluss. Viele Fakultäten verleihen jetzt an mehr als 50 Prozent ihrer Athlet*innen einen Abschluss.

      Hm, 50 Prozent? Ziemlich beeindruckend! Doch diese zuerst so überzeugend anmutende Zahl leistet in Wirklichkeit nicht das, was sie zu leisten vorgibt.

      Obwohl »viele« Fakultäten an über 50 Prozent ihrer Athlet*innen einen Abschluss verleihen, scheint es doch so zu sein, dass einige dies nicht tun – es könnte also gut sein, dass diese Zahl die ausbeuterischsten Fakultäten, um die es den Kritikern tatsächlich in erster Linie ging, unberücksichtigt lässt.

      Das Argument führt zwar durchaus Abschlussquoten an. Doch es wäre nützlich zu wissen, wie sich eine Abschlussquote von »mehr als 50 Prozent« im Vergleich zur Abschlussquote aller Studierenden in denselben Institutionen verhält. Liegt sie deutlich niedriger, könnten Athlet*innen immer noch ungerecht behandelt werden.

      Vor allem aber bietet das Argument keinen Grund zu der Annahme, dass sich die Abschlussquoten von College-Athlet*innen tatsächlich verbessern, weil kein Vergleich zu vorangehenden Quoten angegeben wird! In der Konklusion wird behauptet, dass jetzt die Abschlussquote »höher« sei, doch ohne Kenntnis der früheren Quoten lässt sich das unmöglich sagen.

      Zahlen können auch noch auf andere Weise unvollständige Belege liefern. Regel 9 besagt zum Beispiel, dass die Kenntnis der zugrunde liegenden Quoten entscheidend sein kann. Wenn ein Argument entsprechend Quoten oder Prozentzahlen anführt, müssen die einschlägigen Hintergrundinformationen normalerweise die Anzahl der Beispiele beinhalten. Die Autodiebstähle auf dem Campus mögen sich verdoppelt haben, doch wenn das bedeutet, dass zwei Autos statt eines gestohlen wurden, muss man sich keine großen Sorgen machen.

      Eine weitere statistische Fallgrube ist Übergenauigkeit:

      Jedes Jahr landen 412 067 Papp- und Plastikbecher auf diesem Campus im Müll. Es ist an der Zeit, auf wiederverwertbare Becher umzusteigen!

      Ich bin auch für ein Ende von Müllbergen, und ich bin mir sicher, dass die Müllmenge, die auf dem Campus produziert wird, enorm ist. Doch niemand kennt wirklich die genaue Anzahl der Becher, die in den Müll geworfen wurden – und es ist extrem unwahrscheinlich, dass es jedes Jahr exakt dieselbe ist. In diesem Fall lässt die scheinbare Genauigkeit den Beleg zuverlässiger erscheinen, als er in Wirklichkeit ist.

      Nehmen Sie sich auch in Acht vor Zahlen, die sich leicht manipulieren lassen. Meinungsforscher wissen nur allzu gut, dass die Art, wie eine Frage gestellt wird, beeinflussen kann, wie sie beantwortet wird. Wir erleben dieser Tage sogar »Umfragen«, die versuchen, nur mit Hilfe von Fangfragen die Meinung der Leute zum Beispiel über einen politischen Kandidaten zu ändern (»Wie würde sich Ihr Stimmverhalten verändern, wenn Sie erfahren würden, dass sie eine Lügnerin und Betrügerin ist?«). Zudem basieren auch viele scheinbar »reine« Statistiken eigentlich auf Vermutungen oder Hochrechnungen, wie etwa Daten über halblegale oder illegale Aktivitäten. Da Menschen starke Beweggründe dafür haben, Dinge wie Drogenkonsum, Geschäfte unter dem Ladentisch, die Anstellung ausländischer Beschäftigter ohne Aufenthaltsgenehmigung und Ähnliches nicht offenzulegen oder zu melden, hüten Sie sich vor selbstbewussten Verallgemeinerungen darüber, wie verbreitet sie sind.

      Einmal mehr:

      Wenn Kinder ihren Fernsehkonsum weiter so steigern wie gegenwärtig, werden sie schon 2025 keine Zeit mehr zum Schlafen haben!

      Klar, und 2040 schauen sie dann 36 Stunden pro Tag. Mathematisch gesehen sind Hochrechnungen in solchen Fällen durchaus möglich, doch ab einem gewissen Punkt sagen sie nichts mehr aus.

      11. Rechnen Sie mit Gegenbeispielen

      Gegenbeispiele sind Beispiele, die Ihrer Verallgemeinerung widersprechen. Sie machen vielleicht keinen Spaß. Doch wer Verallgemeinerungen vornimmt, für den können Gegenbeispiele tatsächlich äußerst wertvoll sein, wenn sie früh und gut eingesetzt werden. Ausnahmen »bestätigen die Regel« nicht – ganz im Gegenteil: Sie drohen sie zu widerlegen. – Doch sie können und sollten uns dazu ermutigen, sie weiterzuentwickeln. Suchen Sie daher frühzeitig und systematisch nach Gegenbeispielen. So können Sie Ihre eigenen Verallgemeinerungen am besten präzisieren und Ihr Verständnis des Themas optimal vertiefen.

      Solarenergie ist weit verbreitet.

      Wasserkraft ist seit langem weit verbreitet.

      Windkraft war früher weit verbreitet und ist heute wieder weit verbreitet.

      Also sind erneuerbare Energien weit verbreitet.

      Sicherlich helfen die Beispiele hier durchaus, zu zeigen, dass viele erneuerbare Energiequellen weit verbreitet sind: Sonne, Wind und Wasser. Sobald Sie jedoch anfangen, über Gegenbeispiele statt einfach nur über mehr Beispiele nachzudenken, werden Sie vielleicht feststellen, dass das Argument ein wenig zu stark verallgemeinert.

      Sind alle erneuerbaren Energieträger weit verbreitet? Sobald Sie die Definition von »erneuerbare Energien« nachschlagen, werden Sie feststellen, dass es auch noch andere Formen gibt wie etwa Gezeiten und Geothermie (die in der Erde gespeicherte Wärme). Diese wiederum sind, ob das nun gut ist oder schlecht, nicht so weit verbreitet. Zum einen sind sie nicht überall verfügbar und zum anderen lassen sie sich vielleicht trotz ihrer Verfügbarkeit nur schwer nutzen.

      Sobald Ihnen Gegenbeispiele für eine Verallgemeinerung einfallen, die Sie verteidigen möchten, müssen Sie Ihre Verallgemeinerung entsprechend anpassen. Wäre zum Beispiel das Argument zu den erneuerbaren Energien von Ihnen, könnten Sie die Konklusion in »Viele erneuerbare Energieformen sind weit verbreitet« umändern. Ihr Argument trifft sozusagen immer noch ins Schwarze, obwohl es Grenzen und Verbesserungsmöglichkeiten in einigen Bereichen einräumt.

      Gegenbeispiele sollten Sie dazu ermuntern, gründlicher über das nachzudenken, was Sie eigentlich sagen wollen. Wenn Sie zum Beispiel über erneuerbare Energien diskutieren, besteht Ihr Interesse vielleicht darin, zu zeigen, dass es einsatzbereite und praktikable Alternativen zu den üblichen nicht-erneuerbaren Energiequellen gibt. Sollte das Ihr Ziel sein, müssen Sie nicht zwangsläufig dafür argumentieren, dass alle erneuerbaren Energieträger weit verbreitet sind. Es reicht, dass einige weit verbreitet sind. Sie könnten sogar fordern, dass die weniger stark verbreiteten stärker ausgebaut werden sollten.

      Oder vielleicht wollen Sie, statt zu argumentieren, dass jede erneuerbare Energiequelle weit verbreitet ist oder verbreitet sein könnte, in Wirklichkeit dafür argumentieren, dass an jedem (oder fast jedem?) Ort zumindest einige erneuerbare Quellen verfügbar sind, auch wenn es an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Quellen geben mag. Dies ist eine ganz anders gelagerte und subtilere Behauptung als die ursprüngliche und gibt Ihrer Ansicht einen interessanten Spielraum. (Könnte es für dieses Argument auch Gegenbeispiele geben? Diese Frage überlasse ich Ihnen.)

      Stellen Sie sich die Frage nach Gegenbeispielen, wenn Sie die Argumente anderer bewerten, ebenso, wie wenn sie Ihre eigenen beurteilen. Fragen Sie, ob ihre Konklusionen vielleicht korrigiert und begrenzt oder in subtilere und komplexere Richtungen überdacht werden müssen. Dieselben Regeln gelten sowohl für die Argumente anderer als auch für Ihre eigenen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Sie die Chance haben, Ihre vorschnellen Verallgemeinerungen selbst zu korrigieren.

      III. Analogieargumente

      Es gibt eine Ausnahme von Regel 7 (»Verwenden Sie mehr als ein Beispiel«). Statt die Anzahl der Beispiele zu erhöhen, um eine Verallgemeinerung zu stützen, beziehen sich Analogieargumente mit einem