Hinterbliebene von Menschen, die sich suizidiert hatten, zu betreuen. Ähnliche Einrichtungen folgten in ganz Europa. Chad Varah gründete 1953 in London »The Samaritans«, eine Organisation, die bis heute Suizidgefährdete telefonisch und persönlich unterstützt. In Deutschland richtete Pater Leppich 1954 eine telefonische Seelsorge in Nürnberg ein, deren Angebot auch für selbstmordgefährdete Personen gedacht war. 1956 wurde die ärztliche Lebensmüdenfürsorge Berlin (Klaus Thomas) gegründet und nach deren Vorbild in weiteren deutschen Städten telefonische Seelsorgedienste. In den USA entstand 1958 auf Initiative von N.S. Farberow das erste Suicide Prevention Centre in Los Angeles (Sonneck 2008).
Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass isolierte Suizidprävention zu kurz greift. Krisen stellen häufig Situationen dar, in denen Menschen aufgrund der emotionalen Zuspitzung suizidal werden. Somit war es naheliegend, Konzepte der Suizidprävention mit denen der Krisenintervention zu verbinden. Aus der Lebensmüdenvorsorge Wien ging das Kriseninterventionszentrum Wien (KIZ) hervor, eine der ersten derartigen Institutionen in Europa. Auch dieses verstand sich zunächst als Einrichtung, die ihre zentrale Aufgabe in der Suizidprävention bzw. der Nachbetreuung von Menschen nach Suizidversuchen sah. Erst nach und nach entwickelte sich daraus ein umfassenderes Verständnis von Krisenintervention mit einem präventiven psychotherapeutischen Ansatz.
Schließlich hat auch die sozialpsychiatrische Reformbewegung der 1970er Jahre wesentlich zur Entstehung der ersten Kriseninterventionszentren im deutschsprachigen Raum beigetragen. Das Verständnis, dass psychische Krisen eine zentrale Bedeutung bei der Entstehung psychischer Störungen haben, bzw. deren Verlauf beeinflussen, erforderte therapeutische Konzepte abseits der gängigen psychiatrischen Versorgungseinrichtungen, um durch rechtzeitige Intervention präventiv handeln zu können. Dies führte daher zur Gründung von Institutionen, die zwar eng mit ambulanten und stationären Einrichtungen der Psychiatrie vernetzt sind, aber aufgrund ihrer organisatorischen Unabhängigkeit ein niedrigschwelliges Angebot für jene Betroffenen darstellen, die nicht primär psychiatrischer Hilfe bedürfen. Die Abgrenzung von Krisenintervention und Notfallpsychiatrie bleibt allerdings ein bis heute noch nicht ganz befriedigend gelöstes sowohl theoretisches als auch behandlungsrelevantes Problem. Damit ist auch die Frage verbunden, ob eine Krise in gleicher Weise Folge innerer wie auch äußerer Belastungen sein kann. Die klassische Krisendefinition sieht primär äußere Belastungen als krisenauslösend an und schließt somit psychische Krankheit explizit als Krisenanlass aus. Gleichwohl ist die innere Reaktionsbereitschaft des Betroffenen von entscheidender Bedeutung dafür, ob eine Krise entsteht und welchen Verlauf sie nimmt. Klinische Erfahrungen zeigen, dass es zwar nicht immer einfach, aber dennoch sinnvoll ist, Krisenintervention und Notfallintervention auseinanderzuhalten, da die erforderlichen Interventionsstrategien deutlich voneinander abweichen (
Tab. 1.1: Wurzeln der Krisenintervention
Seit den 1970er Jahren haben sich im deutschsprachigen Raum erfreulicherweise in vielen Großstädten sowohl Kriseninterventionseinrichtungen wie auch rund um die Uhr erreichbare psychiatrische Notdienste als fixe Bestandteile psychosozialer Versorgungsnetze etabliert. In diesem Buch wird in weiterer Folge wiederholt Bezug auf diese fünf Entwicklungslinien genommen (
2 Definition psychosozialer Krisen
Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.« (Max Frisch 1979)
2.1 Einführung und Krisendefinition
»Warum fallen wir? – Damit wir lernen können, uns wieder aufzurichten« (»Batman begins«, Christopher Nolan 2005)
Krisen gehören selbstverständlich zum Leben. Jeder Mensch kann in jeder Lebensphase und in jedem Lebensalter von außergewöhnlichen Belastungen betroffen sein, die wesentliche Lebensziele in Frage stellen. Es kann sein, dass man nahestehende Personen durch Trennungen oder Tod verliert, dass man ernsthaft erkrankt oder seinen Arbeitsplatz verliert. Man muss sich den unausweichlichen Veränderungen des Lebens stellen und ist dazu manchmal besser und manchmal schlechter in der Lage. Belastungen und Herausforderungen führen nicht notwendigerweise zu Krisen. Erst der Verlust der inneren Überzeugung, dass die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen ausreichen, um mit dem Problem in adäquater Weise umgehen zu können, lässt die Situation subjektiv so bedrohlich werden, dass es zu einer massiven innerpsychischen und sozialen Destabilisierung kommt. Dieses vorübergehende Ungleichgewicht zwischen äußeren belastenden Ereignissen oder Lebensumständen und den individuellen Problemlösungsstrategien und Ressourcen ist das zentrale Element der Krisenentstehung und führt in der Folge zu all den unangenehmen Gefühlen und Symptomen, die so charakteristisch für Krisen sind: Angst, Überforderung, Spannung, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Der Betroffene hat den Eindruck, das eigene Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Man kann nicht schlafen, nicht essen, weiß weder ein noch aus, fühlt sich blockiert und antriebslos oder verfällt in hektische Betriebsamkeit. Viktor von Weizsäcker (1940) beschreibt die Krise als eine Unterbrechung der Ordnung. Die Fundamente werden erschüttert und das Selbstwertgefühl und Identitätserleben sind in Frage gestellt. Das normale psychische Funktionsniveau kann erheblich beeinträchtigt sein. Alle Lebensinhalte, die nicht mit der Krise zu tun haben, treten in den Hintergrund.
Eine psychosoziale Krise ist zeitlich begrenzt. Alle relevanten Theorien und die daraus abgeleiteten Interventionsstrategien gehen von einem Zeitraum von einigen Wochen bis maximal drei Monaten aus (z. B. Lindemann 1944, Jacobson 1974, Ulich 1987, Sonneck 2012,
Wie man versucht, mit der Erschütterung umzugehen, stellt wichtige Weichen für die Zukunft. Die Bewältigungsstrategien, die dabei eingesetzt werden, können konstruktiv wie destruktiv sein. Oft ist die Bereitschaft, sich Unterstützung zu holen, Hilfe anzunehmen, über die Probleme zu sprechen und Neues auszuprobieren, hoch. Eine konstruktive Bewältigung stellt einen wichtigen Reifungsschritt dar, der den Betroffenen auch für spätere Anforderungen im Leben stärken kann. Man hat gelernt, »sich wiederaufzurichten«. Scheitern aber die Bewältigungsversuche oder überwiegen schädigende Copingstrategien, kann die Krise zum Auslöser für psychische und psychosomatische Störungen werden und so chronifizieren. »Man bleibt liegen, statt sich wieder aufzurichten.«Im schlimmsten Fall stellt sich ein Gefühl von Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit ein und es kommt zu katastrophalen Zuspitzungen, suizidalen Entwicklungen oder Gewalthandlungen, die den Betroffenen unter Umständen noch »tiefer fallen lassen«.
Krisen stellen also gleichzeitig eine Gefahr und eine Chance für das Individuum dar. Die Dringlichkeit und Zuspitzung, die einerseits besonders unangenehm und bedrohlich ist, birgt auch die besondere Chance zur Veränderung. Ein sehr treffendes Symbol für diese Doppelgesichtigkeit ist der chinesische Begriff für Krise, der sich aus zwei Schriftzeichen Wei und Ji zusammensetzt. Wei steht für Gefahr, Ji für Chance (