zu ihrer Tochter in der bisherigen Form Abschied zu nehmen. In den Stunden weint sie viel, manchmal ist sie über das Verhalten ihrer Tochter auch verärgert. Sie beginnt aber auch zu verstehen, dass der Auszug für die Tochter wahrscheinlich einen wichtigen Ablösungsschritt darstellt, der aufgrund der sehr engen Beziehung vielleicht nicht anders zu bewerkstelligen war. Das relativiert Luises Schuld- und Schamgefühle.
Sie nimmt Kontakt zu den Freundinnen auf, die in der Folge sehr unterstützend sind. Sie geht wieder zur Arbeit und unternimmt Dinge, die ihr Spaß machen. Am Ende der Krisenintervention geht es ihr deutlich besser. Der Trauerprozess ist natürlich noch nicht abgeschlossen. Zusätzlich wird ihr der Zusammenhang mit ihrer eigenen schwierigen Erfahrungen in der Adoleszenz schmerzhaft bewusst. Sie hat im Alter von 15 Jahren ihre Mutter durch eine Krebserkrankung verloren. Viele Erinnerungen an die damalige Situation tauchen auf. Sie überlegt daher eine Psychotherapie zu beginnen.
2.2 Faktoren, die zur Entstehung und zum Verlauf einer Krise maßgeblich beitragen
Ob sich eine Krise entwickelt und wie sie verläuft, hängt von sehr unterschiedlichen Faktoren ab, die in einer komplexen Wechselwirkung zueinander stehen. Im folgenden Kapitel werden diese Faktoren – Art und Schwere der Auslösesituation, subjektive Bedeutung des Geschehens, Krisenanfälligkeit, Reaktion der Umwelt, Problemlösungsstrategien, Abwehrmechanismen und Ressourcen erläutert (
Abb. 2.2: Faktoren, die zur Entstehung und zum Verlauf einer Krise maßgeblich beitragen
2.2.1 Art und Schwere der Auslösesituation
Von wesentlicher Bedeutung ist selbstverständlich die Art und Schwere der Auslösesituation. Die klassischen Modelle unterscheiden je nach Plötzlichkeit des Auftretens und Bedeutung des Krisenanlasses zwischen traumatischen Krisen (Cullberg 1978) und Lebensveränderungskrisen (Caplan 1964). Da ich den Begriff der traumatischen Krise auch in Hinblick auf die Unterscheidung zu Posttraumatischen Belastungsreaktionen für missverständlich halte (
Die Schritte, die zu einer Restabilisierung führen, sind bei Verlust- und Lebensveränderungskrisen sehr verschieden und erfordern daher auch unterschiedliche Strategien der Unterstützung (
Fallbeispiel Anita
Eine 35-jährige Frau kommt ins Kriseninterventionszentrum, da ihr Mann wegen Unterschlagung seit vier Wochen in Untersuchungshaft ist. Sie beschreibt ihren Mann als liebevollen Partner und die Beziehung als harmonisch. Sie haben einen achtjährigen Sohn. Der Mann hatte eine leitende Position in einer Bank. Sie selbst übt eine Teilzeitbeschäftigung als Sekretärin aus. Wie sich jetzt herausgestellt hat, ist ihr Mann aufgrund einer Spielsucht hochverschuldet. Sie wusste zwar nichts von seinen Problemen, hatte sich in letzter Zeit allerdings über seine vielen Überstunden und die für ihn untypische Gereiztheit und abweisende Art ihr und dem Sohn gegenüber gewundert.
Nach seiner Verhaftung war sie zunächst mit der Bewältigung des Alltags beschäftigt und dadurch relativ gefasst. Jetzt wachsen ihr die Probleme aber über den Kopf. Die Bank macht Druck, da sie die Kreditraten für das gemeinsame Haus nicht mehr zahlen kann, ihr Sohn hat Schlafstörungen und ist ganz durcheinander, weil sein Vater nicht da ist. Die Besuche im Gefängnis sind eine Qual, sie sind bei den Gesprächen durch eine Glasscheibe getrennt. Auch wird ihr erst jetzt der ungeheuerliche Vertrauensbruch ihres Mannes bewusst. Sie ist zunehmend verzweifelt und weiß nicht mehr weiter.
Diskussion: Auslöser für die Krise ist natürlich die Verhaftung des Mannes und der damit verbundene Verlust. Belastend ist allerdings nicht nur die vorübergehende Trennung vom Partner, sondern vor allen Dingen auch der Vertrauensbruch, der für sie die Beziehung als Ganzes in Frage stellt. Gerade zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme finden sich aber auch einige Aspekte einer Lebensveränderungskrise, denn erst die zunehmenden Schwierigkeiten in der Bewältigung des Alltags führen zum endgültigen Zusammenbruch.
Auch bei akuten Traumatisierungen ist häufig eine modifizierte Form der Krisenintervention indiziert. Es gibt allerdings gute Gründe, traumatische Ereignisse und deren Folgen nicht unter dem Krisenbegriff zu subsumieren (
2.2.2 Die subjektive Bedeutung des Geschehens
Krisenhaften Charakter bekommt eine äußere Belastung erst durch die subjektive Bedeutung, die Menschen ihr beimessen. Diese kann sowohl interindividuell als auch intraindividuell im Lauf eines Lebens erheblich variieren. Die Vorstellung über die Ursachen und die Funktion der Krise und deren Bedeutung kann dabei erheblich von den realen Hintergründen abweichen. Zum Verständnis, warum die subjektive Bewertung des Geschehens oft so unterschiedlich ausfällt, sind sowohl lerntheoretische Überlegungen, wie auch psychodynamische Theorien hilfreich.
Wie bedrohlich man eine Situation erlebt und ob das Gefühl entsteht, eine Belastung sei momentan nicht bewältigbar, hängt nicht nur mit der Intensität der Anforderung zusammen, sondern auch damit, wie man sie kognitiv begreift. Im transaktionalen Stress-Coping Modell (Lazarus und Folkman 1984) wird dies als »primary appraisal« bezeichnet.