Abb. 2.1: Chinesisches Schriftzeichen für »Krise«
Das Wort krisis stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet Wende, Höhepunkt, Umschlagpunkt oder Entscheidung. Genau genommen ist es der richtungsweisende Wendepunkt in einem Entscheidungsprozess.
In der somatischen Medizin beschreibt der Begriff den Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit, an dem sich entscheidet, ob es zur Heilung oder zur Verschlechterung des Zustands kommt. Es handelt sich dabei um ein besonders heftiges, anfallsartiges Auftreten von Krankheitszeichen mit ungewissem Ausgang.
Eine psychosoziale Krise ist somit nicht primär ein pathologisches Geschehen, wenn sie auch Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Fehlentwicklungen sein kann. Folglich findet sich der Begriff auch nicht in den gebräuchlichen psychiatrischen Diagnosemanualen (
Leider ist die Verwendung des Begriffs »Krise« im psychotherapeutisch/psychiatrischen Kontext mitunter recht ungenau. Die Bezeichnung »psychosoziale Krise« stellt den Versuch einer Präzisierung und Eingrenzung dar, um so eine exaktere Indikationsstellung für psychosoziale Krisenintervention zu ermöglichen. Besonders die drohende Entwicklung oder Dekompensation schwerer psychischer Störungen, wie etwa einer Psychose (»psychotische Krise«) ist von psychosozialen Krisen zu unterscheiden. In diesem Fall ist es – auch im Hinblick auf die notwendigen Interventionsstrategien und Maßnahmen – sinnvoller, von einem psychiatrischen Notfall zu sprechen (
Mit Krise werden auch unterschiedlichste Ereignisse politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Natur beschrieben. Oft hat dies nichts mit einer Krise im beschriebenen Sinn zu tun. Tatsächlich gibt es aber gesellschaftliche Situationen, die zu Phänomenen und Zuspitzungen führen, wie man sie auch bei individuellen Krisen findet. So belastende äußere Ereignisse, wie Kriegshandlungen, Naturkatastrophen oder wirtschaftliche Krisen stellen die zentralen Übereinkünfte eines Gemeinwesens in Frage und häufig sind Gesellschaften in ihrer Gesamtheit dann zeitweise nicht mehr in der Lage, die damit verbundenen Probleme zu bewältigen. Solche Situationen haben natürlich erhebliche Auswirkungen auf das Individuum. Veränderungsprozesse erfahren unter Umständen im Individuum ihre krisenhafte Zuspitzung. Dessen Destabilisierung kann wiederum gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar machen (Stromberger 1990) und hat dann Einfluss auf die Gesellschaft, wie z. B. in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit.
Die an die Arbeiten von Caplan (1964) und Cullberg (1978) angelehnte klassische Definition psychosozialer Krisen von Sonneck (2000; S. 15) lautet:
»Unter psychosozialen Krisen versteht man den Verlust des seelischen Gleichgewichtes, den ein Mensch verspürt, wenn er mit Ereignissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie von der Art und dem Ausmaß her seine durch frühere Erfahrungen erworbenen Fähigkeiten und erprobten Hilfsmittel zur Erreichung wichtiger Lebensziele oder zur Bewältigung seiner Lebenssituation überfordern.«
In Erweiterung dieser Definition lassen sich zusammenfassend folgende allgemeine Charakteristika psychosozialer Krisen beschreiben (
Kasten 2.1: Charakteristika psychosozialer Krisen
• Der Betroffene wird mit belastenden Ereignissen oder neuen Lebensumständen konfrontiert, die wesentliche Lebensziele in Frage stellen.
• Gewohnte Problembewältigungsstrategien versagen.
• Dies macht die Situation rasch bedrohlich und führt zu einer massiven Störung des psychosozialen Gleichgewichts.
• Die emotionale Belastung ist hoch.
• Es kommt zu einer Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und des Identitätserlebens sowie zum Verlust des normalen psychosozialen Funktionsniveaus.
• Es können unterschiedlichste psychopathologische Symptome auftreten.
• Der Vorgang ist zeitlich begrenzt – es wird versucht, möglichst rasch ein neues Gleichgewicht herzustellen.
• Wichtige Weichenstellungen für die Zukunft: Je nachdem ob konstruktive oder destruktive Bewältigungsschritte überwiegen, besteht die Chance zur Weiterentwicklung und Reifung. Ansonsten entstehen spezifische Gefährdungen und Fehlentwicklungen.
Fallbeispiel Luise
Eine 45-jährige Frau sucht das Kriseninterventionszentrum auf Empfehlung der Stationsschwester einer Entgiftungsstation auf. Wegen eines Suizidversuchs mit Medikamenten war sie dort stationär aufgenommen. Sie erzählt, dass ihre 15-jährige Tochter vor drei Wochen für sie ganz unerwartet zum Vater gezogen ist und seither jeden Kontakt zu ihr verweigert. Luise arbeitet als Sekretärin. Seit der Trennung von ihrem Ex-Mann vor vier Jahren dreht sich ihr Leben hauptsächlich um ihre Tochter, auch wenn sie ab und zu kurze Beziehungen hat. Sie ist vollkommen verzweifelt, fühlt sich hilflos und ohnmächtig und meint, ohne die Tochter hätte das Leben keinen Sinn mehr. Ihr Zustand ist in den drei Wochen immer schlechter geworden, sie konnte nicht mehr schlafen, da sie die ganze Nacht wach lag und darüber nachdachte, was sie falsch gemacht habe. Sie ist davon überzeugt, eine »miserable« Mutter zu sein.
Bisher hatte sie ihr Leben ganz gut gemeistert. Sie hat viele soziale Kontakte und redet gerne mit ihren Freundinnen. Derzeit ist sie aber völlig blockiert. Üblicherweise packt sie anstehende Probleme aktiv an. Gerade deshalb fühlt sie sich in der jetzigen Situation so hilflos. Sie hat mehrfach versucht, die Tochter zu kontaktieren, aber diese hat ihr Handy abgeschaltet. Da sie sich für ihr »Versagen« schämt, will sie mit niemandem über die Situation reden. Sie ist krankgemeldet und verbringt die ganze Zeit alleine zu Hause. Die Situation ist so unerträglich geworden, dass sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat, als alle Tabletten, die ihr der Hausarzt verschrieben hatte, einzunehmen. Sie wollte einfach nur Ruhe von den quälenden Gedanken und Gefühlen haben.
Diskussion: Der vollkommen überraschende Auszug ihrer Tochter stellt für Luise einen subjektiv unerträglichen Verlust dar. Da die Tochter der Mittelpunkt ihres Lebens war und sie davon ausgegangen ist, auch die nächsten Jahre mit ihr zu verbringen, sind ihre derzeitigen Lebensziele erheblich in Frage gestellt. Sie ist sehr gekränkt und ohne Perspektive.
Ihre Problemlösungsstrategien versagen. Sie geht üblicherweise aktiv an Probleme heran, aber derzeit gibt es für sie keine Möglichkeit zu handeln. Infolgedessen fühlt sie sich ohnmächtig und ausgeliefert. Sie redet gerne und holt sich normalerweise auch Unterstützung von ihren Freundinnen. Da sie sich aber so schämt, will sie niemanden sehen und versucht alleine zurecht zu kommen. Ihre Situation spitzt sich während dieser drei Wochen gefährlich zu. Sie ist vollkommen verzweifelt, kann nicht schlafen, sie hat Schuldgefühle und ihr Selbstwert ist sehr beeinträchtigt. Sie weiß nicht mehr aus noch ein und schließlich kommt es zum Suizidversuch. Diese an sich destruktive Handlung eröffnet aber auch eine neue Perspektive, da sie erstmals Hilfe von außen erhält und sich ihr so die Möglichkeit bietet, über ihre Situation zu sprechen.
Intervention: Die Krisenintervention umfasst acht Stunden. Die Beziehung zum Berater ist sehr vertrauensvoll, dadurch ist es Luise möglich, offen über sich