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Theben, Griechenland, Gegenwart
Das Mobiltelefon vibrierte auf der Glasplatte des Nachttisches. Sarah Weston erwachte blinzelnd. Das Fenster ihrer Einzimmer-Unterkunft war mit Regentropfen geschmückt, die im blaugrauen Mondlicht schimmerten.
Sie tastete nach dem Telefon. «Weston am Apparat.»
«Habe ich Sie aufgeweckt?» Die Stimme am anderen Ende der Verbindung klang, als gehöre sie einem Kettenraucher, der die ganze Nacht nicht geschlafen hatte.
Sie setzte sich auf. «Evan? Was ist passiert?»
«Ich kann nicht ins Detail gehen. Treffen Sie mich so schnell Sie können beim Museum.» Er legte auf.
In den zwei Monaten ihrer Zusammenarbeit mit Evangelos «Evan» Rigas hatte sie seine knappe Art zu schätzen gelernt. Der Direktor der Ephorie für Prähistorische und Klassische Antiquitäten in Theben war ein Mann weniger Worte. In Griechenland war er als der «einsame Wolf» bekannt: Er war ein knallharter Wissenschaftler, der eine gewisse Geringschätzung für Zusammenarbeit und ein besonderes Misstrauen gegen seine Kollegen aus dem Westen hegte. Seine passiv-aggressive Haltung machte deutlich, dass ihn die Anwesenheit von Sarah und ihrem Partner, dem Anthropologen Daniel Madigan, störte, die den von der Ephorie beaufsichtigten Ausgrabungen als Fachberater zugewiesen worden waren. Aber da er sich in einer trostlosen finanziellen Lage befand, brauchte Evan die von der britischen A.E.-Thurlow-Stiftung bewilligte Förderung und hatte daher keine andere Wahl, als die von der Einrichtung angeheuerten Experten zu ertragen.
Sarah schob ihre Zweifel beiseite und zog sich schmutzige Kakihosen und ein abgetragenes Chambray-T-Shirt an. Das unordentliche Gewirr ihrer blonden Locken band sie zu einem Pferdeschwanz. Während sie zur Tür hinauseilte, griff sie nach ihrem Barbourmantel.
Um vier Uhr morgens im frühen Februar war das Tageslicht noch einige Stunden entfernt. Sarah stieß den Atem aus und beobachtete, wie er eine Wärmewolke bildete, die rasch vom Winterfrost vereinnahmt wurde. Es erinnerte sie an die langen Winter auf dem Familiensitz im ländlichen England und an glücklichere Zeiten. Sie schloss den Reißverschluss ihres Mantels und zog ihre Kapuze über, bevor sie in den Nieselregen trat.
Normalerweise würde sie zum oberen Teil der Kadmeia, der Akropolis des antiken Thebens, hinauf fahren, aber beide Jeeps der Ausgrabung waren verschwunden. Es ärgerte sie, dass weder Evan noch Daniel auf sie gewartet hatten. Zwar machte es ihr nichts aus, zu laufen, nicht einmal im Regen, aber der Achthundert-Meter-Gewaltmarsch bergauf durch schlammiges Gelände würde länger dauern als nötig.
Wenigstens kannte sie den Weg gut. Sie machte diese Wanderung täglich, drehte aber normalerweise nach Südosten ab, zu einem Hügel, auf dem die wenig erforschte Kultstätte des Apollon Ismenios stand, deren zerstörte Marmorsäulen wie eine neolithische Henge zwischen den überwucherten Gräsern angelegt war.
Zuerst hatte Sarah Bedenken gehabt, einen Posten an einem so unbedeutenden Ort anzunehmen. Doch Daniel, vom Ruf des Ismenions als eine von Griechenlands wichtigen, wenn auch einer längst vergessenen, Orakelstätte begeistert, hatte sie davon überzeugt, dem Ganzen eine Chance zu geben. Auch wenn sie zugestimmt hatte, ihn zu unterstützen, teilte sie seine Überzeugung nicht. Sie glaubte, ihre jeweiligen Talente wären woanders besser eingesetzt.
Wenn sie es positiv betrachtete, musste sie zugestehen, dass der Ort ruhig war, vorhersehbar und ohne jede Kontroverse. Nach ihren letzten beiden Aufträgen, wo alles etwas heikel geworden war, freute sie sich darauf, zur Abwechslung einmal völlig unbemerkt zu bleiben.
Als sie um die Ecke zu dem Gipfel bog, auf dem das Museum niedergelassen war, musste sie in Betracht ziehen, sich dabei gewaltig getäuscht zu haben.
Im flackernden Licht einer halb aus dem Scharnier hängenden Wandlaterne bemerkte sie, dass rot-weißes Absperrband der griechischen Polizei den Museumsvorplatz umgab. Außerhalb der Absperrung standen zwei Polizisten plaudernd und Zigaretten rauchend unter einem Überhang.
Sie rief ihnen zu: «Ich bin Sarah Weston und arbeite mit Professor Rigas zusammen. Er hat mich hergebeten.»
Einer der Männer musterte sie von Kopf bis Fuß. Ohne sich die Mühe zu machen, sie sich ausweisen zu lassen, winkte er Sarah hinein.
Sie duckte sich unter dem Absperrband hindurch und überquerte den Vorplatz auf dem Weg zum Haupteingang. Die Vordertür stand offen und alle Lichter im Haus waren eingeschaltet. Sarah blickte auf ihre Timex: 4:49 Uhr.
Aus einem Flur hörte sie Stimmen und ging darauf zu. Ein Ermittler nahm gerade Evans Aussage auf. Da sie auf keinen Fall stören wollte, zog sie sich zurück und warf einen Blick in die Korridore. Alles war still. Wo war Daniel? Hatte er nicht denselben Anruf erhalten?
Unter ihren abgetragenen, ledernen Wanderstiefeln knirschte etwas: das unverwechselbare, dumpfe Knacken zerbrochenen Glases.
Ein Diebstahl?
Mit den Augen folgte sie der Spur aus Glasscherben zu einem flachen Schaukasten in Raum B, in dem Töpfereien und kleine Objekte ausgestellt wurden. Sie blickte über beide Schultern, um sich zu vergewissern, dass sie allein war, und ging darauf zu.
Als sie sich darüber beugte, runzelte sie die Stirn. Der Kasten war zerschmettert und ausgeräumt worden. Sie las den in griechisch verfassten Ausstellungstext: Messingpfahl, Herkunft unbekannt.
Das war merkwürdig. Üblicherweise wurden Objekte unbekannter Herkunft oder Chronologie nicht ausgestellt, bevor sie weiter untersucht werden konnten.
Sarah sah sich um. Auf der anderen Seite des Westflügels sperrte dasselbe zuckerstangengestreifte Band eine offene Tür ab. Sie erinnerte sich daran, dass dies der Eingang zu einem Lagerraum war, in welchem die Urkundensammlung des Museums aufbewahrt wurde. Sie ging darauf zu.
Die Papiere sah sie zuerst. Jeder Behälter war umgedreht worden, der Inhalt über den Boden verstreut, auf Regalen, einem Arbeitstisch. Der Raum war durchsucht worden.
Hinter einem Stapel leerer Kisten entdeckte sie ein Paar Füße. Sarahs Gesicht wurde heiß, als Adrenalin sie durchflutete. Sie übertrat das durchhängende Absperrband gerade so weit, dass sie einen besseren Blick bekam, ohne den Tatort zu verunreinigen.
Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein Keuchen zu unterdrücken. Der Nachtwächter lag reglos in einer Ecke. Seine Hände waren mit einem Computerkabel gefesselt und sein Mund mit schwarzem Klebeband verschlossen. Sein Gesicht war übel zugerichtet und blutbeschmiert. Ein langer, wunder Streifen verlief über seinen Hals, als ob jemand versucht hätte, ihn zu strangulieren.
Sie spürte eine Hand auf der Schulter und zuckte zusammen.
«Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe.»
Erleichtert, Evan zu sehen, stieß sie hörbar den Atem aus. «Ist schon in Ordnung. Möchten Sie mir erklären, was los ist?»
«Man hat mir gesagt, dass ich das tun muss.»
Sarah überging seine abfällige Bemerkung.
«Es gab einen Einbruch mitten in der Nacht.» Obwohl sein Englisch fehlerfrei war, kam sein griechischer Akzent im gerollten R zum Ausdruck.
«Wer ist der Wachmann? Ich kann mich nicht erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben.»
«Er war neu. Nicht mal eine Woche im Dienst.» Evan betrachtete den Tatort. «Sieht aus, als hätte er sich ordentlich zur Wehr gesetzt.»
Sarah wurde übel. In ihren zwölf Jahren als Archäologin hatte sie viele Fälle von Antiquitätendiebstahl und Gewalt gesehen – und es wurde niemals einfacher, diese zu verarbeiten. «Das verstehe ich nicht. Ist der Alarm nicht losgegangen?»
«Ist er, aber niemand hat ihn gehört. Zumindest nicht rechtzeitig.» Er zuckte mit den Schultern. «Seit den Budgetkürzungen sind wir gezwungen, ohne Überwachung auszukommen.»
Sarah verzog das Gesicht zum äußerlichen Ausdruck ihrer Verachtung für die Kurzsichtigkeit der Regierung. Ihr war sehr wohl bewusst, dass das Kultusministerium unter der Wirtschaftskrise gelitten