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Delphi, 391 n. Chr.
Sonnenlicht schien zwischen den Mandelblütenbüscheln hindurch und verlieh ihnen eine transparente Rosafärbung, welche an die gesäumten Wolken in der Morgendämmerung erinnerte. Der Kuss der Sonne befreite den Duft der Blüten. Er war süß wie das Versprechen eines Geliebten, eine Beteuerung, dass der Winterfrost dem Frühling gewichen war, und dass bald neues Leben aus der jungen Erde sprießen würde.
Für Aristea bedeutete die Ankunft des Frühlings mehr als das. Sie markierte die Rückkehr Apollons aus dem Land der Hyperboreer, wohin sich der Sonnengott mit dem ersten Winteratem zurückzog. Apollons Ankunft in Delphi hieß, dass sein Orakel bald in den Dienst gerufen würde.
In den sechzehn Jahren, seit sie auserwählt worden war, das Wort des Gottes an seiner heiligsten Kultstätte auszusprechen, hatte Aristea diesen Moment immer mit einem gewissen Maß an freudiger Erregung betrachtet. Er verkündete die Ankunft einer neuen Schar von Supplikanten, die wie ihre Väter vor ihnen nach Delphi reisen würden, um ihr Schicksal vom Orakel verkündet zu hören. Diese Verantwortung nahm sie nicht leicht, denn die Prophezeiungen, die sie aussprach, konnten das Leben eines Mannes verändern.
Oder tatsächlich die Geschichte selbst.
Aristea ging zur Kastalischen Quelle und kniete sich an ihren Rand. Als sie ins glasklare Wasser sah, blickte ihr Abbild ihr mit leuchtend braunen Augen entgegen. Sie hob eine Hand an die Wange. Aristea hatte dieselbe olivfarbene Haut wie ihre Vorfahren. Das hatte man ihr zumindest erzählt. Sie stammte aus einer langen Linie von Priesterinnen, die auf Themistokleia zurückging, Lehrerin des weisen Mathematikers Pythagoras.
Wie sie hatte Aristea unzähligen Seelen den Weg gewiesen und das Unvermeidliche vorhergesagt. Ihre Prophezeiungen waren immer genau und wahr, wie es der Natur des Gottes entsprach, der in ihr Ohr flüsterte. Die Wahrheit jedoch war eine Zauberin, die unterschiedliche Formen für unterschiedliche Betrachter annahm. Da Menschen waren, was sie waren, deuteten sie die Worte des Orakels so, wie sie ihnen gerade zusagten, manchmal mit verheerenden Folgen.
Aristea zog eine Hand durchs Wasser und verwischte ihr Spiegelbild.
Es war im vorletzten Sommer geschehen. Ein Gesandter aus Alexandrien hatte die zweimonatige Reise nach Delphi angetreten, zu Wasser und zu Land, um den Rat des Orakels zu suchen.
In der Nacht, in der er für würdig befunden wurde, Apollons Wort zu empfangen, stieg der Ägypter hinter zwei delphischen Priestern zum Adyton hinab und wurde angewiesen, hinter der falschen Wand zu stehen.
Aristea saß auf dem Dreifuß der Wahrheit und starrte in eine Schüssel, die mit heiligem Wasser aus der Quelle der Kassotis gefüllt war. Am Rand ihres Blickfelds konnte sie den Supplikanten durch ein quadratisches Fenster sehen, das in die Wand eingelassen war. Seine Hände hatte er vor sich verschränkt und sein Kopf war zur Erde geneigt.
Sie atmete tief ein und roch die vertraute Süße, die an Nektar von Honigbienen erinnerte, die sich an Orangenblüten gütlich getan hatten. Apollons heiliges Pneuma hatte das Adyton durchdrungen. Sie schloss die Augen, gab sich seinem Geist hin.
«Welche Antwort sucht Ihr, Amenthes von Alexandrien?», hörte sie einen der Priester sagen.
«Gibt es Rettung vor den Armeen des Theodosius, die jetzt in Unterägypten einmarschieren, oder werden sie unsere Art vernichten?»
Unsere Art. Amenthes bezog sich sicher auf die Heiden Alexandriens, die ihre Rituale seit Ewigkeiten unhinterfragt ausgeübt hatten. Theodosius, Kaiser des östlichen Teils des Römischen Reiches und ein frischgebackener Christ, hatte im Jahr 388 einen Feldzug gegen Ägypten gestartet und geschworen, die Ketzerei jener zu zerschlagen, die an eine Vielzahl von Göttern glaubten.
Aristea sog das Pneuma tief in ihre Lunge und wartete. Ihr Atem ging gleichmäßig und ruhig, ihr Kopf fühlte sich leicht an, als wäre er leer. Gedanken kamen und gingen ungehindert, bis sie alle ihr Bewusstsein verließen. Sie war bereit, zu empfangen.
«Komme jetzt, oh Apollon, und führe dein Werkzeug», murmelte sie leise. Sie wollte nicht, dass jemand sie hörte, denn das Band bestand ausschließlich zwischen ihr und ihrem Gott.
Ein Bild blitzte vor ihrem geistigen Auge auf: eine lange Halle, vom zitternden Licht in Eisenhalterungen steckender Fackeln erhellt, der Marmorboden mit dunklen Lachen befleckt. Am anderen Ende stand ein Altar. Ihr Verstand bewegte sich dorthin und verweilte bei einem blutigen Messer. Daneben summten Fliegen um einen Berg aus Eingeweiden.
Eine blutbefleckte Hand griff nach der Klinge, hielt sie in die Höhe. Der Messerträger drehte sich um und starrte sie mit hasserfülltem Blick aus obsidianschwarzen Augen an.
Sie zuckte. Die Vision wich nicht. Sie sah ein Trümmerfeld. Umgestürzte Marmorsäulen, zerbrochene Giebel, eine in hunderte Stücke geschlagene Büste. Auf eine der gefallenen Säulen war das Zeichen des Kreuzes gemalt.
Mit einem Ruck öffnete sie die Augen. «Tritt näher, Amenthes von Alexandrien.» Ihr Mund brachte die Worte hervor, ohne dass sie es befahl.
Amenthes näherte sich.
Den Kopf unter ihrem weißen Schleier geneigt blickte Aristea ins Wasser. Kleine Wellen gingen in konzentrischen Kreisen von einer Störung in dessen Mitte aus. Sie spürte, wie die Schüssel sachte in ihren Händen vibrierte.
«Es gibt zwei Arten von Männern. Jene, die mit dem Herzen glauben, und jene, die ihre Wahrheit laut verkünden. Beide werden das Haus betreten, das Ptolemaios gebaut hat, aber nur einer wird wieder herauskommen. Und die Gerechtigkeit wird siegreich zwischen den Ruinen stehen und die Tracht der Trauernden tragen.»
«Das Haus, das Ptolemaios gebaut hat», wiederholte der Ägypter. «Das Serapeum?»
«Das Orakel hat gesprochen», sagte der Priester. «Eure Bürde ist es, ihre Worte zu verstehen und Euer Schicksal zu meistern. Nun geht in Frieden.»
Aristea hörte das Schlurfen von Füßen und das Rascheln von Stoff, als der alexandrinische Gesandte das Adyton verließ. Sie hatte seinen Namen im Buch der Seelen gesehen. Er würde den Winter nicht überleben.
Und so war es geschehen. Aristea spritzte sich Wasser aus der Kastalischen Quelle ins Gesicht. Da es gerade mit der Schneeschmelze von den Steilhängen des Parnass kam, war es eiskalt. Es erfrischte sie, konnte die Erinnerung aber nicht fortwaschen.
Im vergangenen Winter hatte die Nachricht Delphi erreicht, dass Theodosius' Armeen mit dem Segen des alexandrinischen Bischofs den Dionysos-Tempel im Schutz der Nacht geplündert hatten. Sie hatten die Opferaltare in Brand gesteckt und die heiligen Hallen mit ihrem Schmutz entweiht.
Heidnische Gläubige, die seit Beginn des ägyptischen Staates unabhängig gewesen waren, strömten auf die Straßen, um ihre Empörung auszudrücken, und Christen stellten sich ihnen entgegen. Die Kämpfe dauerten zwei Tage an und forderten Verluste auf beiden Seiten, bis Theodosius' Armeen mit ihren Waffen einfielen und den Bürgerstreit in einen Krieg verwandelten.
Die Heiden zogen sich ins Serapeum zurück und nahmen christliche Gefangene mit. Aber ihre Barrikaden hielten nicht stand. Mit großen Rundhölzern brachen die kaiserlichen Armeen die Türen auf, betraten den Tempel mit ihren Speeren und Schleudern und erstachen und steinigten die Gläubigen, bis niemand mehr übrig war.
Das Blut befleckte den Marmor so unauslöschlich, dass nicht einmal die Täter es ansehen konnten. Sie zerstörten den Tempel und warfen seine blutigen Trümmer ins Meer. Das Serapeum, Ptolemaios' sagenumwobenes Kunstwerk, war zerstört.
Es war das erste Mal gewesen, dass Aristea ein Massaker vorhergesagt hatte. Aber sie vermutete, es würde nicht das letzte Mal sein.
Kapitel 6
Sarah kannte die Stimme des Mannes, kannte den Geruch seiner Haut. Ihr Körper entspannte sich, ein Signal, dass sie seiner Anweisung Folge leisten würde. Er ließ sie los.
Von der Vorderseite des Gebäudes her ertönte ein Grunzen. «Ich kann es nicht glauben. Er muss mir den falschen Code gegeben