Daphne Niko

DAS ORAKEL


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einer Stunde. Jemand hat versucht, den Obelisken zu stehlen.»

      Daniel runzelte die Stirn, als er an Sarah dachte. «Wurde jemand verletzt?»

      «Das Ganze lief ein wenig aus dem Ruder. Anscheinend hat sich der Wachmann unvernünftigerweise zur Wehr gesetzt. Er hat das Archiv verteidigt, als wäre es sein eigenes. Warum auch immer.» Langham schüttelte den Kopf. «Einfältiger Narr. Es hat ihn das Leben gekostet.»

      Daniel atmete aus. Sein Atem schwebte in der kühlen Luft und löste sich in Zeitlupe auf.

      Langham fuhr fort. «Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute lautet: Der Obelisk war nicht in seinem Schaukasten. Wie es scheint, hat Rigas ihn nur Stunden zuvor in den Tresorraum gebracht.»

      «Was? Wie konnte er das gewusst haben?»

      «Er sagt, das hätte er nicht. Er behauptet, ihn zwecks weiterer Untersuchungen bewegt zu haben. Aber meiner Meinung nach stinkt die Geschichte zum Himmel.»

      «Wie lautet die schlechte Nachricht?»

      «Die Papiere, in denen der Obelisk katalogisiert ist, sind verschwunden. Sie besitzen jetzt alle bekannten Informationen über den Gegenstand, inklusive des unerfreulichen Details über seine Verwahrung im Tresor.» Er schnaubte. «Sie werden wiederkommen.»

      «Lassen Sie mich raten. Sie haben einen Plan.»

      Langham lächelte schief. «Allerdings. Aber wir müssen schnell handeln. Sie müssen Folgendes für mich tun …»

      Kapitel 4

      Am Morgen nach dem Raub waren die Steine auf dem Ismenion-Berg besonders still. Unter einem wetterwendischen Himmel arbeitete Sarah alleine an der Ausgrabung eines mykenischen Grabs aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus.

      Auf der Suche nach Aufmunterung bei der anspruchsvollen Arbeit entfernte sie den Schmutz vom Rand eines Grabgefäßes. Sie konnte sich nicht konzentrieren. In ihrem Kopf spielte sie die frühmorgendlichen Ereignisse noch einmal durch und versuchte, eine Erklärung zu finden.

      Es war nicht der Einbruch selbst, der sie stutzig machte. Im krisengeplagten Griechenland waren Museumsdiebstähle und Plünderungen historischer Ausgrabungsstellen weitverbreitet. Es war immer dieselbe Leier: Die Diebe stahlen lediglich einige wenige Gegenstände, und selten die reizvollsten. Statt eines großen, identifizierbaren Bestandes drängten sie konsequent kleine Mengen gestohlener Antiquitäten auf einen gewaltigen Schwarzmarkt, wo sie sich wie Tropfen in einem Eimer voll Wasser verloren. Es war wie das stückweise Öffnen einer Wunde. Der Schmerz war nicht stark genug, als dass die Menschen sich darum kümmerten, und niemand bemerkte den Gesamtschaden.

      Doch dies war anders. Die Plünderer waren hinter Informationen her, nicht hinter Artefakten. Obwohl die örtliche Polizei den Vorfall wie einen gescheiterten Diebstahl behandelte, sagte Sarahs Instinkt ihr, dass unter der Oberfläche etwas Größeres vor sich ging.

      Sie griff in die kleine Tasche, die in die Naht ihrer Hose eingelassen war, und zog das Marmoramulett mit den vier Punkten heraus. Mit dem Finger strich sie über die gezackte Kante. Die scharfe Oberfläche deutete darauf hin, dass der Anhänger erst vor Kurzem zerbrochen war, möglicherweise während des Handgemenges. Früher an diesem Morgen, nachdem die Ermittler gegangen waren, war Sarah heimlich zum Tatort zurückgekehrt und hatte ihn nach einem weiteren Teil des Amuletts durchkämmt, aber nichts gefunden. Entweder war es verschwunden oder es war überhaupt nie dort gewesen. Sie schloss die Faust um den Anhänger. Hinter diesem Gegenstand steckte mehr.

      Sarahs Gedanken wanderten zu Daniel. Seine Reise nach Athen mitten in der Nacht war ein weiteres, unerklärliches Verhalten in einer ganzen Reihe davon. In der kurzen Zeit, die sie in Theben verbracht hatten, war er still und gelegentlich distanziert gewesen. Seine gelassene Art und sein unverwechselbarer Esprit hatten sich praktisch in Luft aufgelöst.

      Ihr Blick wanderte umher, während sie sich an einen Anruf erinnerte, den Daniel am Nachmittag zuvor erhalten hatte. Er hatte auf sein Telefon hinabgesehen und die Stirn gerunzelt. Zum Antworten hatte er sich abgewandt und nur gesagt: «Ich rufe zurück.» Einen Augenblick später entschuldigte er sich aus dem Labor und ließ Sarah und Evan mitten im Gespräch stehen. Als er fünf Minuten später zurückkam, wirkte er aufgewühlt.

      «Stimmt was nicht?», hatte Sarah gefragt.

      «Alles in Ordnung. Nur ein Anruf von der Stiftung. Lass uns weiterarbeiten.»

      Jetzt fragte sich Sarah, ob das der Anruf gewesen war, der ihn nach Athen zitiert hatte. Aber warum die Heimlichtuerei? Sie wollte ihm den Vertrauensbonus gewähren, ihn nicht beschuldigen, Teile der Wahrheit zu verschweigen, aber die Erinnerung verspottete sie mit dem Gedanken an eine Entwicklung, die sie angestrengt zu ignorieren versucht hatte.

      Sie legte den Pinsel beiseite und lehnte sich gegen die freigelegte Felssohle. Sie zog das Bandana von ihrem Kopf, sodass ihr die Haare über den Rücken hinab fielen, und wischte sich den Schmutz vom Gesicht. Im bleiernen Licht des bewölkten Morgens zeigten die Mittelmeer-Zypressen – schmale, aus der felsigen Erde sprossende Säulen – nichts von ihrer üblichen Erhabenheit. Die Olivenbäume mit ihren knorrigen, alten Stämmen und silbergrünen Blättern wirkten wie Bewohner eines versteinerten Waldes.

      Jenseits des Hügels tauchten winzige graue Punkte wie Pinselstriche in einer pointillistischen Landschaft auf. Im Tal erstreckte sich die Stadt Theben, eine willkürliche Ansammlung winziger rotgedeckter Häuser und monolithischer weißer Gebäude, zwischen denen sich einzelne Flecken von Grün zeigten. Es fiel schwer, die unscheinbare moderne Stadt mit dem thebanischen Machtzentrum der Antike in Einklang zu bringen. In diesem Tal und der Zitadelle, die sich darüber erhob, waren die Todfeinde des antiken Thebens, die Athener, dem Erdboden gleichgemacht und die schicksalhafte Allianz mit Xerxes' Persern geschmiedet worden. Und hier hatte die Hybris zum Niedergang geführt, als die heilige Schar Thebens den mit Langspeeren bewaffneten Armeen Alexanders des Großen haushoch unterlag.

      Sarah hatte immer Trost darin gefunden, auf den Spuren von antiken Weisen und Narren, Kriegern und Poeten, großen Anführern und niederträchtigen Verrätern zu wandeln: Den Männern, welche mit ihrem Blut oder ihrer Zunge die westliche Zivilisation geformt hatten. Doch in diesem Moment entzog sich ihr ein solcher Trost, wie Wasser durch ein Sieb rinnt.

      Aus dem Zwielicht erschien eine gebeugte Gestalt. Sarah dachte, es sei Daniel und stand auf. Sie verspürte einen Anflug von Enttäuschung, als sie erkannte, dass Evan auf sie zukam. Die Hände hatte er in seine Taschen geschoben und sein Kopf war geneigt, als würde er sich vor einer stürmischen Bö schützen.

      Sie steckte das Amulett in ihre Tasche zurück und kam ihm auf halbem Weg entgegen. «Gibt es etwas Neues?»

      Evans angespannte Züge passten zu seiner schützenden Haltung. «Nicht viel. Da nichts gestohlen wurde, schließen sie diesen Teil des Falls ab. Den Mord untersuchen sie weiter, aber das könnte Jahre dauern. Die Polizei hier ist ein Witz.»

      «Wie können Sie sicher sein, dass nichts aus den Archiven gestohlen wurde?»

      Er zuckte mit den Schultern. «Selbst wenn, kümmert das die Polizei nicht. Antiquitäten fehlen keine; das ist das Wichtigste.»

      «Die sind vielleicht nicht beunruhigt, aber wir sollten es sein. Sie haben doch sicher Inventur gemacht. Sie sollten wissen, ob Akten fehlen.»

      Mit offensichtlichem Unbehagen wandte er den Blick ab.

      «Evan.» Sie wartete, bis er sie wieder ansah. «Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn ich es nicht weiß.»

      Er zögerte. Etwas an der Art wie er ihr Gesicht studierte, sagte ihr, dass er sich seine Antwort zurechtlegte. «Na schön. Sie haben die Verzeichnisse über die derzeitig gelagerten Artefakte mitgenommen.»

      «Glauben Sie, die sind hinter einem Objekt aus dem Tresor her?»

      «Das bezweifle ich. Wahrscheinlich klopfen Sie nur auf den Busch, um zu sehen, was wir haben. Diese Kleinkriminellen tun das ständig.»

      Sarah starrte Evan an. War er wirklich