Daphne Niko

DAS ORAKEL


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Geier ihre Kreise zogen und auf den richtigen Moment warteten, um zuzuschlagen.

      «Wie konnte die Polizei dann wissen, dass sie herkommen musste?»

      «Ich habe sie angerufen.» Er schob seine runde, schwarz umrandete Brille auf seinem Nasenrücken nach oben. «Ich war auf dem Weg zum Labor, um einen Bericht zu beenden, als ich den Alarm hörte. Ich bin sofort zum Museum gerast, aber es war schon zu spät.»

      Sarah erinnerte sich an den zerbrochenen Schaukasten. «Was wurde gestohlen?»

      «Tatsächlich nichts. Der Gegenstand war weggebracht worden.»

      «Weggebracht … wohin?»

      Evan war einen Moment lang still. Er wandte sich ihr zu. Seine tief liegenden Augen wurden von seinen dichten, schwarzen Brauen verdunkelt. «Hören Sie, ich muss gehen. Die Polizei hat noch weitere Fragen.»

      «Evan, warten Sie.» Ihr Tonfall war schärfer, als sie es beabsichtigte. «Wo ist Daniel?»

      «Er musste nach Athen gehen.»

      «Athen?» Sie verspannte sich. «Wozu?»

      «Ich kann jetzt nicht reden. Sie warten auf mich.»

      Sarah beobachtete, wie Evan auf die Polizisten zuging, und fragte sich, was er ihr verschwieg. Sie dachte darüber nach, wie abenteuerlich es war, dass Daniel mitten in der Nacht nach Athen aufbrach. Was konnte so dringend sein? Und warum hatte er sie nicht informiert? Etwas stimmte nicht.

      Aufgrund des Läutens ihrer inneren Alarmglocken fühlte sie sich leicht benommen. Abwesend blickte sie zum verwüsteten Lagerraum und der reglosen Gestalt eines Mannes, der ein paar Stunden zuvor noch äußerst lebendig gewesen war. Ihre Gedanken rasten durch Erinnerungen ihrer jüngsten Vergangenheit: Ein Mönch, erstochen, weil er ein uraltes Geheimnis bewahrte; ein Stammeskrieger, durchbohrt als Opfer eines Wahnsinnigen auf der Suche nach einem biblischen Schatz; ihr Vater, als Geisel gehalten und beinahe getötet. Sie rieb sich die Augen, um die ungebetenen Visionen der Gewalt abzuschütteln, die ihre Arbeitseinsätze heimzusuchen schienen und ihr die Freude an den archäologischen Entdeckungen verdarben.

      Sie entschied sich, nicht zu bleiben. Als sie durch den Korridor auf den Ausgang zuging, bemerkte sie winzige rote Tröpfchen auf dem Boden zwischen den Glasscherben. Sie folgte der Spur durch den Flur und zur Haupteingangstür. Nahe der Schwelle zeigte ein schlammiger, blutgefärbter Fußabdruck in Richtung des Gebäudes. Obwohl der Abdruck schwach war, konnte sie das Fischgrätmuster der Sohle ausmachen.

      Sarah drückte die Tür langsam auf und betrachtete den Vorhof, entdeckte aber nichts. Alle weiteren Spuren des Eindringlings mussten vom Regen davongespült worden sein. Sie ging an den Polizisten vorbei und verließ den Tatort. Am Rand des Museumskomplexes blieb sie für einen Moment stehen und blickte zum schieferfarbenen Himmel, der die Stunde vor Tagesanbruch verkündete.

      Mit der Absicht, Daniel anzurufen, griff sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy. Als sie nach unten blickte, bemerkte sie etwas Sonderbares. Ein kleiner, an einem schwarzen Lederband befestigter Gegenstand lag halb im Schlamm vergraben. Sie sah hinter sich zu den Wachen; sie rauchten und lachten noch immer.

      Sie hockte sich hin, um den Gegenstand genauer zu betrachten. Mit der Hand schob sie die nasse Erde beiseite und ein Anhänger aus Marmor kam zum Vorschein, oder vielleicht ein Amulett. Der untere Rand war gezackt und scharfkantig, als fehlte ein Teil, und das Lederband war sauber durchgerissen. Sie hob den Gegenstand auf. Ein kurzer Blick auf Äderung und Kolorierung stellte den Stein in einen antiken Kontext, aber im Zwielicht konnte sie nicht sicher sein.

      Sarah drehte ihn um. Ihre Kiefermuskeln verkrampften sich, als sie eine Inschrift auf der Rückseite entdeckte. Sie rieb den Schlamm fort und offenbarte ein Symbol, das sie nicht kannte. Auf dem Marmor befand sich eine Reihe aus vier in gleichmäßigen Abständen eingravierten Punkten.

      Kapitel 3

      Daniel Madigan stand am Rand der Rollbahn des Privatflugplatzes des internationalen Athener Flughafens. Sein Blick war auf die sich brechenden Lichter der Tragflächen gerichtet, während das Flugzeug auf ihn zurollte. Das schrille Heulen des Motors schmerzte seine Ohren und trug zu seinem Unbehagen bei.

      Der Einweiser kreuzte ein Paar fluoreszierende, gelbe Lichtstäbe über seinem Kopf, um dem Flugzeug das Signal zum Anhalten zu geben. Die fünf Minuten, bis sich die Tür der Maschine öffnete, schienen wie Stunden. Um seine Erschöpfung zu vertreiben, rieb sich Daniel die Augen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal durchgeschlafen hatte.

      Der Mann, den er erwartete, tauchte am oberen Ende der Metalltreppe auf und schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch. Er stieg die Stufen mit beschwingten Schritten hinunter, die seine korpulente Statur Lügen straften.

      Daniel ging auf ihn zu, um ihm auf halben Weg zu begegnen. Er hatte genaue Anweisungen erhalten: Das Treffen musste auf der Rollbahn stattfinden, wo niemand mithören konnte.

      «Madigan.» James Langham, der Vorsitzende der A.E.-Thurlow-Stiftung, streckte eine aufgedunsene, kurzfingerige Hand aus. «Danke, dass Sie mich so kurzfristig treffen.»

      «Nicht der Rede wert, James.» Daniel überspitzte seinen Tennessee-Akzent, wie er es oft tat, wenn er mit hochrangigen Briten sprach. Er verzichtete auch auf Höflichkeitsformen, in diesem Fall Sir, weil er die Heuchelei nicht leiden konnte.

      «Ich vertraue darauf, dass niemand weiß, dass Sie hier sind.»

      «Niemand. Genau wie Sie wollten.»

      «Nicht einmal …»

      Daniel unterbrach ihn, bevor er Westons Tochter sagen konnte. Ihren Namen zu hören verstärkte nur seine Schuldgefühle darüber, Geheimnisse vor ihr zu haben. «Hören Sie, ich weiß, wie es läuft.» Er verschränkte die Arme. «Kommen wir einfach zur Sache, ja?»

      Langham schob die Hände in seine Taschen und atmete einen Nebelhauch aus. «Es gab eine Komplikation. Sie müssen mehr tun als ursprünglich vereinbart.»

      «Zum Beispiel?»

      «Es sieht so aus, als sei der Messingobelisk wertvoller, als wir angenommen hatten. Er scheint ein Schlüssel zu etwas zu sein.»

      Langham bezog sich auf einen Gegenstand mysteriösen Ursprungs, der ein Jahr zuvor am Grund eines Flusses in Mittelgriechenland gefunden und der Ephorie in Theben übergeben worden war. Ein Sammler, dessen Identität wohlgehütet war, hatte den Griechen eine große Summe im Austausch für das Artefakt geboten, aber die Stiftungsväter nutzten ihren politischen Einfluss, um die Transaktion zu verhindern. Seitdem wurde der Gegenstand im Museum ausgestellt.

      Dafür gab es Gründe, und über diese war Daniel in Kenntnis gesetzt worden. Aber als Teil der Vereinbarung, die er getroffen hatte, musste er Stillschweigen bewahren. Jetzt, nach zwei Monaten im Einsatz, schien es ihm, als hätte er einen Fehler gemacht. «Ein Schlüssel. Woher wissen Sie das?»

      «Sie sollten nicht so dumm sein, einen hochrangigen Beamten der britischen Regierung so etwas zu fragen. Gehen Sie einfach davon aus, dass unsere Information stimmt. Wir wissen zwei Dinge.» Er zählte sie an seinen feisten Fingern auf. «Erstens, der Sammler, der den Obelisken kaufen wollte, ist der Mann, nach dem wir gesucht haben, und zweitens, er will ihn verzweifelt in die Hände bekommen – oder vielmehr das, wozu er führt. Um ihn dingfest zu machen, müssen wir ein bisschen Katz und Maus spielen.» Er nickte Daniel zu. «Da kommen Sie ins Spiel.»

      Daniel spürte das Beißen eines eisigen Windstoßes auf den Lippen. «Das war so nicht vereinbart. Beschaffen Sie die Information und verschwinden Sie. Erinnern Sie sich?»

      «Es scheint, Sie sind derjenige, der sich nicht erinnert.» Langhams Stimme nahm einen scharfen Ton an. «Muss ich Ihnen ins Gedächtnis rufen, was wir vor ein paar Monaten für Sie getan haben?»

      Daniel hasste es, in die Enge getrieben zu werden. Aber er hatte keine Wahl. Er hatte sein Wort gegeben. «Das wird nicht nötig sein. Ich werde meine Schuld gegenüber der britischen Regierung begleichen, wie ich es zugesichert habe.»

      «Schön.