nach Art der armseligen Jünglinge, die im Foyer der Oper herumglucksen wie Hühner im Mastkäfig. Kurzum, er beschloß, seine Gefühle, seine Gedanken, seine Neigungen einem Weibe darzubringen, einem Weibe! Dem Weibe! Ah! … Er hegte zunächst den lächerlichen Gedanken einer unglücklichen Liebe, er umwarb eine Zeitlang seine schöne Cousine, Frau d’Aiglemont, ohne gewahr zu werden, daß bereits ein gewisser Diplomat den Faustwalzer mit ihr getanzt. Das Jahr 1825 ging hin in Suchen, Erproben und nutzlosem Kokettieren. Die begehrte liebende Seele fand sich nicht. Die großen Leidenschaften sind selten. Zu jener Zeit gab es in Liebesdingen ebenso viele Barrikaden, wie in den Straßen. In Wahrheit, meine Brüder, das ›Unpassende‹ zieht uns an! Da man uns den Vorwurf gemacht hat, den Porträtmalern, den Taxatoren und Modehändlern ins Handwerk zu pfuschen, so soll euch denn auch die Beschreibung der Betreffenden, in der Godefroid seine Gefährtin zu finden meinte, nicht erspart bleiben: Alter neunzehn Jahre, Größe ein Meter fünfzig, Haare blond, Brauen ebenso, Augen blau, Stirn mittel, Nase gebogen, Mund klein, Kinn schmal, Gesichtsform oval, besondere Kennzeichen keine. Das also ist der Steckbrief des geliebten Gegenstandes. Ihr dürft nicht anspruchsvoller sein als die Polizei, die Herren Ortsvorsteher und andere anerkannte Autoritäten. Das Gesagte würde übrigens auch auf die Venus von Medici passen. Als Godefroid das erstemal einen jener Bälle besuchte, durch die Frau von Nucingen eine gewisse Berühmtheit erlangte, erspähte er bei einer Quadrille den zukünftigen Gegenstand seiner Liebe und entzückte sich an dieser Gestalt von ein Meter fünfzig. Die blonden Haare umströmten in brausenden Kaskaden ein kleines harmloses Gesicht, das frisch war wie das Antlitz einer Najade, die die Nase ans kristallene Fenster ihrer Quelle preßt, um die Frühlingsblumen zu sehen. (Dies ist neuester Stil, bei dem die Phrasen Fäden ziehen wie Makkaroni.) Ihr kennt die Wirkung blonder Haare und blauer Augen in Verbindung mit einem weichen, wollüstigen und sittsamen Tanz? Solch ein junges Mädchen gleicht nicht den ehrgeizigen Brünetten, deren Blicke zu sagen scheinen: ›Geld oder Leben! Fünf Franken, oder ich verachte dich!‹ Diese übermütigen – und nicht ganz ungefährlichen – Schönheiten mögen vielen Männern gefallen; nach meiner Ansicht aber hat die Blonde, die das Glück hat, ganz besonders zärtlich und liebenswürdig zu erscheinen, ohne doch ihre Rechte der Zurückhaltung, der Neckerei, des netten Plauderns, der Eifersüchtelei und alles dessen, was eine Frau anbetungswürdig macht, einzubüßen, weit mehr Aussichten, sich zu verheiraten, als die feurige Brünette. Das Holz ist teuer. Isaure – sie war weiß und zart wie eine Elsässerin – war in Straßburg geboren und sprach das Deutsche mit einem sehr anmutigen französischen Akzent und tanzte wunderbar. Ihre Füße, die der Polizeibeamte nicht erwähnt hatte und die dennoch ihren Platz in der Rubrik ›Besondere Kennzeichen‹ verdienten, waren bemerkenswert durch ihre Kleinheit und ihre eigenartige Sprache, die die Alten ›flic flac‹3 genannt haben. Die Füße Isaures plauderten mit einer Sicherheit, Leichtigkeit und Schnelligkeit, die in Herzensdingen von guter Vorbedeutung sein mußte. ›Sie hat flic flac!‹ war das erhabenste Lob, das Marcel spendete, Marcel, der einzige Tanzmeister, der den Namen ›der Große‹ verdiente. Man sagte ›der große Marcel‹, wie man ›der große Friedrich‹ sagte – damals, zur Zeit Friedrichs des Großen.«
»Er hat wohl auch Ballette komponiert?« fragte Finot. »Ja, dergleichen wie ›Die vier Elemente‹, ›Europa in Liebe.‹«
»Welch eine Zeit,« sagte Finot, »als noch die Herren von Adel den Tänzerinnen Kleider schenkten!«
»Unpassend!« erwiderte Bixiou. »Isaure tanzte nicht auf Zehenspitzen; sie fußte fest am Boden, wiegte sich, ohne zu hüpfen, nicht mehr und nicht weniger verführerisch, als ein junges Mädchen sich eben wiegen darf. Marcel meinte übrigens voll abgründiger Erkenntnis, jeder Stand habe seine besondere Tanzweise: eine verheiratete Frau müsse anders tanzen als ein junges Mädchen, ein Raufbold anders als ein Finanzmann, ein Militär anders als ein Edelknabe; er ging sogar so weit, zu behaupten, ein Infanterist müsse anders tanzen als ein Kavallerist – und hieran anschließend machte er seine Betrachtungen über alle Gesellschaftsklassen. Wie weit sind wir doch heute von alledem entfernt!«
»Höre,« sagte Blondet, »du legst da den Finger in eine große Wunde. Hätte man Marcel richtig verstanden, so wäre es nicht zur Revolution gekommen.«
»Godefroid«, fuhr Bixiou fort, »konnte auf seinen Reisen durch Europa nicht umhin, die fremdländischen Tänze kennen zu lernen. Hätte er nicht so viel von der Tanzkunst verstanden – vielleicht hätte er sich niemals in das junge Mädchen verliebt; so aber war er von den dreihundert Geladenen, die sich durch die schönen Salons der Rue Saint-Lazare drängten, der einzige, der die ungeschriebenen Liebesworte verstand, die dieser geschwätzige Tanz ausplauderte. Man bemerkte wohl die Anmut Isaure d’Aldriggers; aber in einem Jahrhundert, wo man den Ausruf liebte: ›Vorwärts, halten wir uns nicht auf!‹ hieß es in diesem Falle nur: ›Sieh da, dies junge Mädchen tanzt famos‹ (dies sagte ein Schreiber), oder: ›Das junge Mädchen da tanzt entzückend‹ (eine Dame mit Turban), oder (wie eine Frau von dreißig Jahren sagte): ›Das junge Mädchen dort drüben tanzt nicht schlecht!‹ Kommen wir auf den großen Marcel zurück und zitieren wir seinen berühmten Ausspruch: ›Was liegt nicht alles im Avant-deux!‹«4 »Und beeilen wir uns ein wenig!« sagte Blondet, »sprich nicht so schwülstig.«
»Isaure«, fuhr Bixiou mit einem schiefen Blick auf Blondet fort, »trug ein schlichtes Kleid aus weißem Krepp, das mit grünem Band geziert war, eine Kamelie im Haar, eine Kamelie im Gürtel, eine andere am Saum des Kleides und eine Kamelie …«
»Du willst uns wohl die dreihundert Ziegen des Sancho aufzählen?«
»Ich bin eben literarisch, mein Lieber! ›Clarisse‹ ist eins der größten Meisterwerke und umfaßt vierzehn Bände, der stumpfsinnigste Vaudevilledichter aber wird es dir in einem Akt heruntererzählen. Vorausgesetzt, daß ich dich unterhalte, sehe ich nicht ein, weshalb du dich beklagst? – Diese Toilette war von köstlicher Wirkung. Liebst du die Kamelien nicht? Möchtest du lieber Dahlien? Nein? Dann also eine Kastanie, da!« sagte Bixiou, der bei diesen Worten Blondet eine Kastanie zugeworfen haben mußte, denn wir hörten das Aufschlagen auf den Teller.
»Schön, ich hatte unrecht; fahre nur fort!« sagte Blondet. »Also weiter,« sagte Bixiou. »›Ist sie nicht wie gemacht zum Heiraten?‹ wandte sich Rastignac an Beaudenord, indem er auf die Kleine mit den