herumzulaufen, da gab er sich aus Verzweiflung dem Rechtsstudium hin und kaufte sich den Rechtstitel. Nun war er Advokat ohne einen Sou, ohne Klientel, ohne andere Freunde als uns, und hatte für Amt und Bürgschaft die Zinsen zu zahlen.«
»Er kam mir damals vor wie ein entsprungener Tiger,« sagte Couture. »Mager, mit rotem Haar und tabakbraunen Augen, kalter und gleichgültiger Miene, aber ein scharfer Arbeiter, der Schrecken seiner Schreiber, die nicht müßig sein durften, klug und gerieben, von honigsüßer Beredsamkeit, sich nie hinreißen lassend …«
»Und er hat gute Seiten,« rief Finot. »Er ist seinen Kameraden ein treuer Freund, und seine erste Sorge war, Godeschal, den Bruder Mariettas, zum Schreiber zu nehmen.«
»In Paris«, sagte Blondet, »gibt es nur zwei Arten von Advokaten: den Advokaten, der Ehrenmann ist, der sich in den Grenzen des Gesetzes hält, Prozesse führt, die Dinge nie übereilt, nicht vernachlässigt, seinen Klienten redlichen Rat erteilt, indem er in zweifelhaften Fällen zu einem Vergleiche rät, kurzum ein Derville. Der andere ist der Hungeradvokat, dem alles recht ist, vorausgesetzt, daß es sichern Gewinn bringt; der keine Berge versetzt, denn er verkauft sie, aber der die Sterne vom Himmel herunterholt; der sich anheischig macht, einen Schurken über einen Ehrenmann triumphieren zu lassen, wenn der Ehrenmann zufällig nicht bei Kasse ist. Wenn einer dieser Advokaten einen gar zu grauenhaften Streich spielt, so zwingt ihn die Kammer, seinen Beruf aufzugeben. Desroches, unser Freund Desroches, hat diesen an armen Schluckern betriebenen Beruf gut verstanden: er hat Leuten, die fürchteten, ihre Sache zu verlieren, ihren Prozeß abgekauft, er stürzte sich in Bosheiten und Kniffe, denn er war entschlossen, sich aus dem Elend herauszuarbeiten. Er hatte recht, er hat ehrlich seinen Weg gemacht! Politiker, denen er aus unangenehmen Wirren herausgeholfen, wurden seine Förderer, wie zum Beispiel unser lieber des Lupeaulx, dessen Lage so bedenklich war. Er mußte das, um sich herauszuziehen, denn Desroches war anfänglich beim Gericht unbeliebt, er, der sich solche Mühe gab, die Fehler seiner Klienten wieder gutzumachen! … Nun, Bixiou, erzähle weiter … weshalb war Desroches in der Kirche?«
»›D’Aldrigger hinterläßt sieben- oder achthunderttausend Franken!‹ bekam Desroches von Taillefer zur Antwort. ›Na na! Es gibt nur einen, der sein Vermögen kennt,‹ sagte Werbrust, ein Freund des Verstorbenen. ›Wer?‹ ›Der alte Schlaukopf Nucingen; er wird bis zum Kirchhof mitgehen. D’Aldrigger ist sein Gönner gewesen, und zum Dank ließ er das Vermögen des Biedermannes heimlich abschätzen.‹ ›Seine Witwe wird einen großen Unterschied wahrnehmen!‹ ›Wie meinen Sie das?‹ ›Nun, d’Aldrigger liebte seine Frau sehr! Lachen Sie nicht, man sieht her.‹ ›Halt, da ist ja auch du Tillet, er hat sich recht verspätet, es wird schon die Epistel verlesen.‹ ›Er wird wahrscheinlich die Älteste heiraten.‹ ›Ist es möglich?‹ sagte Desroches, ›er steht mehr denn je mit Frau Roguin in Beziehungen.‹ ›Er, in Beziehungen? … Sie kennen ihn nicht!‹ ›Wie ist eigentlich die Position von Nucingen und du Tillet?‹ fragte Desroches. ›Sie ist die,‹ sagte Taillefer: ›Nucingen ist der Mann, das Vermögen seines alten Gönners an sich zu reißen und es ihm wieder zurückzuerstatten.‹ Werbrust hustete. ›Es ist verteufelt kalt in der Kirche!‹ Er hustete wieder. ›Wieso zurückzuerstatten?‹ ›Nun, Nucingen weiß, daß du Tillet ein großes Vermögen besitzt, und will ihn mit Malvina verheiraten; aber du Tillet mißtraut Nucingen. Wer dem Spiel zusieht, hat seine Freude daran.‹ ›Wie?‹ sagte Werbrust, ›schon heiratsfähig? … Wie schnell man alt wird!‹ ›Malvina d’Aldrigger ist über zwanzig Jahre, mein Lieber. Der gute d’Aldrigger hat 1800 geheiratet, Er gab uns damals in Straßburg bei seiner Hochzeit und bei der Geburt Malvinas ein paar herrliche Feste. Malvina ist 1801, dem Jahr des Friedens von Amiens, geboren, und jetzt haben wir 1823, Papa Werbrust. Damals ossianisierte man alles, daher nannte er seine Tochter Malvina. Sechs Jahre später, unterm Kaiserreich, war er eine Zeitlang für alles Ritterliche begeistert; so nannte er seine zweite Tochter Isaure, sie ist siebzehn. Sind also zwei heiratsfähige Töchter.‹ ›In zehn Jahren haben die Mädchen keinen Sou mehr,‹ sagte Werbrust vertraulich zu Desroches. ›Der Alte, der dort an der Kirchentür steht und tapfer mitbrüllt, ist der Kammerdiener von d’Aldrigger; die beiden jungen Mädchen sind unter seinen Augen groß geworden, er ist zu allem fähig, wenn es gilt, ihr Leben angenehm zu gestalten.‹ Die Vorsänger: ›Dies irae!‹ Die Chorknaben: ›Dies illa!‹ Taillefer: ›Adieu, Werbrust; wenn ich das Dies irae höre, werde ich zu sehr an meinen armen Sohn erinnert.‹ ›Ich gehe auch; es ist zu feucht hier,‹ sagte Werbrust. (›In favilla.‹) Die Armen an der Tür: ›Liebe Herren, schenken Sie uns ein paar Sous!‹ Der Schweizer: ›Pang! pang! Gebt für die Kirche! Gebt für die Kirche!‹ Die Vorsänger: ›Amen!‹ Ein Bekannter: ›Woran ist er gestorben?‹ Ein neugieriger Witzbold: ›An einem Schiff, das auf den Grund gelaufen ist.‹ Ein Passant: ›Wissen Sie, wer es ist, der hier verstorben ist?‹ Ein Verwandter: ›Der Präsident von Montesquieu.‹ Der Sakristan zu den Armen: ›Macht euch fort, man hat uns schon für euch etwas gegeben; ihr dürft nichts mehr fordern!‹«
»Großartig!« sagte Couture.
Und wirklich, man sah das ganze Leben und Treiben in der Kirche vor Augen. Bixiou vergaß nichts; sogar das Geräusch, mit dem die Leichenträger den Sarg aufhoben und davonschritten, ahmte er, mit den Füßen auf dem Fußboden scharrend, nach.
»Es gibt Dichter und Romanschriftsteller, die über Pariser Sitten und Gebräuche viele schöne Dinge sagen,« fuhr Bixiou fort; »hier aber habt ihr die Wahrheit über eine Begräbnisfeier. Auf hundert Leute, die so einem Kerl von Toten den letzten Dienst erweisen, kommen neunundneunzig, die ganz öffentlich in der Kirche von Geschäft und Vergnügen sprechen. Es gehört ein ganz unglaublicher Zufall dazu, um wirklich mal ein wenig wahres Leid aufzuspüren. Überhaupt: gibt es denn ein Leid, das nicht im Grunde Egoismus wäre? … Als die Messe beendet, begleiteten Nucingen und du Tillet den Trauerzug zum Kirchhof. Der alte Kammerdiener ging zu Fuß. Der Kutscher lenkte den Wagen hinter den der Geistlichkeit. ›Nun, main kuter Fraind,‹ sagte Nucingen zu du Tillet, als der Wagen den Boulevard entlang fuhr, ›die Kelegenhait ist ginstig, hairaten Se Malfina, machen Se sich ßum Peschitzer dieser armen wainenden Familsche; dann werden Se haben aine Familsche, ain Haim. Se werden sich in ain kemachtes Pett setzen, und Malfina ist ain Kemüt, ain wahrer Schatz, sak ich Ihnen‹.«
»Man meint wirklich den alten Robert Macaire von Nucingen zu hören!« sagte Finot. »›Ein reizendes Mädchen,‹ sagte Ferdinand du Tillet