Rastignac sich an Malvina, und er sprach in biederm, väterlichem Tone, ›ich armer Junge bin trotz meiner großen Schläfrigkeit bis zwei Uhr hier sitzen geblieben, nur um Ihnen den Rat ans Herz zu legen: Heiraten Sie! Spielen Sie nicht die Empfindliche, lassen Sie überhaupt Ihre Gefühle beiseite und seien Sie nachsichtig gegen die unedle, berechnende Art der Männer, die einen Fuß hier und einen bei der Matifat haben, denken Sie an nichts: Heiraten Sie! Wenn ein junges Mädchen heiratet, so hat es jemanden gefunden, der ihm ein mehr oder weniger glückliches Leben bietet, jedenfalls aber sie materiell versorgt. Ich kenne die Welt: junge Mädchen, Mütter und Großmütter, alle wissen sie zu heucheln und das Gefühl beiseitezusetzen, wenn es sich um eine Heirat handelt. Keine denkt an etwas anderes als eine angenehme gesellschaftliche Stellung. Hat sie ihre Tochter gut verheiratet, so sagt jede Mutter, sie habe ein ausgezeichnetes Geschäft gemacht.‹ Und Rastignac entwickelte ihr seine Theorie über die Ehe, die er eine Handelsgesellschaft, gegründet um das Leben erträglich zu machen, nannte. ›Ich verlange nicht, Ihr Herzensgeheimnis zu erfahren,‹ schloß er seinen Vortrag, ›ich kenne es. Die Männer sagen einander alles, gerade wie ihr Frauen, wenn ihr nach dem Diner eure Besuche macht. Hier also mein letztes Wort: Heiraten Sie! Wenn Sie nicht heiraten, so denken Sie daran, wie ich Sie heute abend hier beschworen habe, es zu tun!‹ Rastignac betonte seine Worte so bedeutungsvoll, daß sie zum Nachdenken anregten. Seine Eindringlichkeit hatte etwas Verwunderliches. Rastignacs Rede hatte Malvina gerade da gepackt, wo er es gewollt; ihr Verstand horchte auf, und noch andern Tags dachte sie über seine Worte nach und suchte vergeblich die Gründe für diesen wohlmeinenden Rat.«
»Du läßt immer wieder einen neuen Kreisel vor unseren Augen tanzen, aber ich sehe darin nichts, was mit dem Ursprung von Rastignacs Vermögen etwas zu tun hätte; du behandelst uns als Matifats und kostest uns schon sechs Flaschen Champagner!« rief Couture. »Jetzt sind wir so weit,« erwiderte Bixiou. »Ihr habt den Lauf all der kleinen Bächlein verfolgt, die die vierzigtausend Livres Rente tragen, um die so viele Leute ihn beneiden. Rastignac hielt also die Fäden aller dieser Schicksale in Händen.«
»Desroches, die Matifat, Beaudenord, die d’Aldrigger; d’Aiglemont?«
»Und hundert andere! …« sagte Bixiou, »Laß sehen, wieso?« fragte Finot. »Ich weiß gar manches, aber dieses Rätsels Auflösung kenne ich nicht.«
»Blondet hat euch in großen Zügen die zwei ersten Liquidationen Nucingens genannt, hier jetzt ausführlich die dritte,« entgegnete Bixiou. »Seit dem Frieden von 1815 hatte Nucingen begriffen, was wir erst heute wissen: daß Geld erst dann eine Macht ist, wenn es in unbegrenzten Mengen vorhanden ist. Er beneidete insgeheim die Brüder Rothschild. Er besaß fünf Millionen, er wollte zehn besitzen! Mit zehn Millionen hätte er es verstanden, dreißig zu gewinnen, mit fünf aber würde er es nur auf fünfzehn bringen. Er hatte also beschlossen, eine dritte Liquidation in Szene zu setzen. Der große Mann gedachte, das Geld seiner Gläubiger zu behalten und sie mit künstlich in die Höhe getriebenen Papieren abzufinden. An der Börse wird ein derartiger Einfall natürlich nicht so klar bezeichnet. Eine solche Liquidation besteht darin, den großen Kindern für einen Louisdor eine kleine Pastete zu verabreichen, wie dieselben Leute als Kinder für ihr Geldstück eine Pastete haben wollten, ohne zu wissen, daß sie für dasselbe Geldstück zweihundert hätten bekommen können.«
»Was redest du da, Bixiou?« rief Couture, »aber nichts ist doch redlicher als das! Es vergeht heutzutage keine Woche, ohne daß man der Menge eine Pastete anbietet und einen Louis dafür verlangt. Ja, ist denn die Menge gezwungen, ihr Geld herzugeben? Hat sie nicht das Recht, sich Klarheit zu verschaffen?«, »Also«, fuhr Bixiou fort, »Nucingen hatte zweimal, ohne es zu wollen, das Glück gehabt, eine Pastete zu verabreichen, die sich später als wertvoller erwies als der dafür gezahlte Preis. Dieser empörende Glücksfall reute ihn. Derartige Glücksfälle vermögen einen Menschen umzubringen. Seit zehn Jahren wartete er auf die Gelegenheit, den Irrtum wieder gutzumachen, Aktien zu schaffen, die anscheinend etwas wert seien und die …«
»Ja, wenn du das Bankwesen so darstellst,« sagte Couture, »so ist überhaupt jedes Geschäft unmöglich. Mehr als ein redlicher Bankier hat im Einverständnis mit einer redlichen Regierung die schlauesten Börsianer dahin gebracht, Aktien zu kaufen, die in gegebener Zeit wertlos befunden wurden. Ihr habt schon anderes gesehen! Hat man nicht mit Einverständnis, ja Unterstützung der Regierungen Werte in Umlauf gesetzt, um die Zinsen gewisser Summen aufzubringen, um den Kurs auf diese Weise zu halten und die Papiere los zu werden? Diese Maßnahmen haben mehr oder weniger Ähnlichkeit mit der Liquidation à la Nucingen.«
»Im kleinen«, sagte Blondet, »kann die Sache seltsam scheinen; im großen betrieben ist sie hohe Politik. Es gibt willkürliche Handlungen, die beim einzelnen strafbar sind, die aber nichts bedeuten, sobald sie auf eine Mehrheit ausgedehnt sind, gleichwie ein Tropfen Blausäure in einem Wasserkübel unschädlich ist. Ihr tötet einen Menschen, man richtet euch hin; der Staat aber tötet aus irgendeiner Überzeugung heraus fünfhundert Menschen – man achtet das politische Verbrechen. Ihr nehmt aus meinem Schreibtisch fünftausend Franken, man schickt euch ins Bagno; schmiert ihr aber tausend Bankiers geschickt den Honig irgendeines Gewinnes ums Maul, so zwingt ihr sie, die Papiere von ich weiß nicht welcher verkrachten Republik oder Monarchie zu nehmen, Papiere, die, wie Couture sagte, ausgeworfen wurden, um die Zinsen ebendieser Papiere zu bezahlen: niemand kann sich beklagen. Da habt ihr die wahren Grundsätze des goldenen Zeitalters, in dem wir leben!«
»Das In-Gang-bringen eines so ausgedehnten Apparates«, fuhr Bixiou fort, »verlangte eine Menge Hanswurste. Zunächst – denn jede Liquidation muß begründet sein – hatte das Bankhaus Nucingen mit Absicht und Vorbedacht seine fünf Millionen bei irgendeinem amerikanischen Unternehmen angelegt, das, wie man weise berechnet hatte, erst viel später einen Gewinn abwarf. Man hatte sich also absichtlich seiner Barmittel entblößt. Das Bankhaus besaß an Privatgeldern und emittierten Werten etwa sechs Millionen. Unter den Privatgeldern befanden sich die dreihunderttausend Franken der Baronin d’Aldrigger, die vierhunderttausend von Beaudenord, eine Million von d’Aiglemont, dreihunderttausend Franken von Matifat, eine halbe Million von Charles Grandet, dem Gatten des Fräuleins d’Aubrion, usw. Wenn er selbst ein industrielles Aktienunternehmen gründete, mit dessen Aktien er seine Gläubiger durch mehr oder minder