zurückzuerobern, und wir sorgten für die Ruhe der Nationen. Ich brachte Rabourdie durch eine Karikatur um!« (Siehe ›Der Beamte‹!) »Wenn ich das Wort ›Religion‹ anwende, so meine ich damit nicht die Frömmelei, sondern hohe Politik,« ergänzte Blondet, »Sprich deutlicher!« sagte Finot.
»Also«, fuhr Blondet fort, »die Affäre von Lyon, die Kanonade in den Straßen der Republik, ist viel besprochen worden, keiner sagte die Wahrheit. Die Republik hatte sich des Aufruhrs bemächtigt, wie ein Aufständischer eines Gewehrs. Ich will euch die Wahrheit erzählen. Der Lyoner Handel ist ein Handel ohne Seele, der keine Elle Seide herstellt, ohne daß sie ausdrücklich bestellt und ihre Bezahlung gesichert ist. Bleibt die Bestellung aus, so stirbt der Arbeiter Hungers, verdient er doch bei der Arbeit kaum den Lebensunterhalt; die Sträflinge sind glücklicher daran als er. Nach der Julirevolution erreichte das Elend den Höhegrad, daß die Seidenarbeiter die Flagge hißten: ›Brot oder Tod!‹ ein Aufruf, der den Staat zum Nachdenken hätte bringen können, denn die Kostspieligkeit des Lebens in Lyon hatte ihn veranlaßt. Lyon will Theater erbauen und Großstadt werden, daher die unsinnigen Steuern. Die Republikaner haben diesen Hungeraufstand vorausgeahnt, und sie haben die Seidenarbeiter organisiert. Lyon hatte seine drei Tage, aber alles kam wieder in Ordnung und der Arbeiter in sein Kerkerloch. Der bis dahin redliche Arbeiter aber, der die Seide, die man ihm in Gebinden zuwog, als Gewebe zurückgab, setzte von nun ab die Redlichkeit beiseite, denn er hatte erkannt, daß die Kaufherren ihn ausbeuteten. Er netzte seine Finger mit Öl, und der französische Seidenmarkt war von fettigen Stoffen überschwemmt, was den Sturz Lyons und überhaupt des ganzen französischen Seidenhandels hätte herbeiführen können. Statt daß nun die Fabrikanten und die Regierung die Ursache des Übels abschafften, machten sie es wie gewisse schlechte Ärzte und sorgten, daß die Sache wieder nach innen schlug! Man hätte einen geeigneten Mann nach Lyon entsenden müssen, einen jener Leute, die man unmoralisch nennt, einen Abbé Terray, aber man nahm die Sache von der militärischen Seite! Infolge der Wirren kam Neapolitaner Seide auf den Markt, die Elle zu vierzig Sous. Diese Neapolitaner Seiden sind, man darf es sagen, heute verkauft, und die Fabrikanten haben natürlich irgendeine Kontrolle eingeführt. Eine derartige Fabrikationsweise durfte sich in einem Lande ereignen, das einen Richard Lenoir, einen der bedeutendsten Männer, die Frankreich besessen, sein eigen nannte. Dieser Mann richtete sich zugrunde, aus Ehrgeiz, sechstausend Arbeitern, auch ohne ausdrückliche Bestellungen, Arbeit und Nahrung zu verschaffen; und gerade er wußte Ministern zu begegnen, die dumm genug waren, ihn 1814, bei dem Umsturz in den Gewebepreisen, untergehen zu lassen. Da habt ihr den einzigen Fall, wo ein Kaufmann ein Denkmal verdient hätte. Nun, der Mann ist heute Gegenstand einer Subskription ohne Subskribenten, obschon man für die Kinder des Generals Foy eine Million gespendet hat. Lyon ist konsequent: es kennt Frankreich und weiß, daß es kein religiöses Empfinden, keine Gewissenhaftigkeit hat. Die Geschichte Richard Lenoirs ist ein Fehler, den Fouché für schlimmer als ein Verbrechen bezeichnen würde.«
»Mag sein, daß es im Geschäftsleben scheinbar viel Schwindeleien gibt,« nahm Couture die Rede da wieder auf, wo er vor der Unterbrechung stehen geblieben war, »doch frage ich, wo beginnt eigentlich der Schwindel und wo hört er auf; was ist überhaupt Schwindel? Ein Wort, das stets zwischen Recht und Unrecht die Grenze hält und bald hier-, bald dorthin schwankt. Tut mir die Liebe und nennt mir einen, der kein Schwindler ist! Zeigt doch ein wenig guten Willen! Ein Handel, der des Nachts suchen gehen wollte, was er bei Tage verkauft, wäre ein Unsinn. Selbst ein Streichholzhändler hat Wucherinstinkte. Eine möglichst hohe Einnahme! Das ist die Sehnsucht sowohl des als tugendhaft verschrieenen Krämers aus der Rue Saint-Denis wie auch des ›frechen‹ Spekulanten. Sind die Lager voll, so ist es nötig, zu verkaufen. Um zu verkaufen, muß man den Kunden einheizen; daher im Mittelalter das Firmenschild und heute der Prospekt! Auch solche marktschreierischen Aufforderungen üben einen gewissen Zwang aus. Es kann, ja es muß zuweilen vorkommen, daß der Kaufmann verdorbene Waren erhält, denn der Verkäufer übervorteilt den Wiederverkäufer, soviel er kann. Nun, wendet euch an die achtbarsten Leute von Paris, an die Spitzen der Kaufmannschaft …, sie alle werden euch triumphierend die List erzählen, mit der sie ihre schlecht eingekaufte Ware in Umlauf setzen. Die bekannte Firma Minard machte mit derartigen Verkäufen den Anfang. Die allerehrbarsten Kaufleute werden mit der ehrlichsten Miene den Ausspruch frechster Unredlichkeit tun: ›Aus einem schlechten Handel zieht man sich heraus, so gut es eben geht.‹ Blondet hat euch die Ereignisse in Lyon in ihren Ursachen und Folgen geschildert; ich werde die Anwendung meiner Theorie mit einer Anekdote beweisen. Ein mit einer geliebten Frau und vielen Kindern gesegneter Wollarbeiter glaubt an die Republik. Mein Mann kauft also rote Wolle und verfertigt gestrickte Mützen, die ihr wohl auf den Köpfen sämtlicher Pariser Gassenjungen gesehen habt; nun hört, wie das gekommen. Die Republik ist abgetan. Nach der Affäre von Saint-Merri waren die Mützen unverkäuflich. Wenn ein Arbeiter sich in seinem Haushalt von Weib, Kindern und zehntausend roten Wollmützen umgeben sieht, die ihm kein Hutmacher von beiden Ufern der Seine abnehmen will, so gehen ihm ebensoviel Gedanken durch den Kopf wie einem Bankier, der in einer faulen Sache zehn Millionen Aktien unterzubringen hat. Wißt ihr, was unser Arbeiter, unser Law6 der Vorstadt, unser Nucingen der Mützen, tut? Er suchte einen Kneipbruder auf, so einen Witzbold, der bei den öffentlichen Tanzgelegenheiten und Schaustücken der Schrecken der Schutzleute ist, und bat ihn, die Rolle eines Ramschkäufers aus Amerika, wohnhaft Hotel Maurice, zu spielen und bei einem gewissen reichen Hutmacher zehntausend rote Wollmützen zu verlangen, der in seiner Auslage nur noch eine einzige besitze. Der Hutmacher vermutet ein glänzendes Geschäft, läuft zu dem Arbeiter und versieht sich gegen Barzahlung mit sämtlichen Mützen. Ihr begreift: kein amerikanischer Ramschkäufer mehr, aber viele Mützen! Wollte man solcher ungehörigen Vorkommnisse wegen die Handelsfreiheit angreifen, so hieße das unserer Justiz den Vorwurf machen, daß es Vergehen gibt, die sie nicht ahndet. Auch an der Bank und im Aktienverkehr gibt es solche Mützengeschichten! Nun fahrt fort!«
»Couture, eine Krone!« rief Blondet aus und wand dem Redner seine Serviette ums Haupt. »Ich gehe noch weiter, meine Herren! Sind die Theorien von heute lasterhaft – wen trifft die Schuld? Das Gesetz! Das Gesetz in seiner gesamten Anlage, die Gesetzgebung! Die großen Männer aus der Provinz, die aufgeblasen von moralischen Anschauungen hierherkommen, voll weiser Gedanken, die für ihre Lebensführung unerläßlich