Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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hun­dert­tau­send Fran­ken zu ver­die­nen und dann durch Be­ge­bung ei­ni­ger Wech­sel oder mit Hil­fe ei­nes Ban­kier­kre­dits den Mo­ment ab­zu­war­ten, da ich mei­nen Ver­lust wie­der gut­ge­macht und die Ter­rains ih­ren Mehr­wert er­reicht ha­ben wer­den.«

      Wenn ein Mensch, der ins Un­glück ge­ra­ten ist, sich mit mehr oder we­ni­ger rich­ti­gen Er­wä­gun­gen, mit de­nen er sein Kopf­kis­sen pols­tert, um dar­auf zu schla­fen, ein Luft­schloß auf­ge­baut hat, so wird er häu­fig da­durch ge­ret­tet. Vie­le Leu­te hal­ten das Ver­trau­en, das die Il­lu­si­on ein­gibt, für Ener­gie. Und viel­leicht be­steht die Hälf­te des Mu­tes in der Hoff­nung, die ja auch die ka­tho­li­sche Re­li­gi­on un­ter die Tu­gen­den rech­net. Hat die Hoff­nung nicht vie­le Schwa­che auf­recht er­hal­ten, in­dem sie ih­nen die Zeit ge­währ­te, die Wech­sel­fäl­le des Ge­schicks ab­zu­war­ten? Ent­schlos­sen, dem On­kel sei­ner Frau sei­ne Lage aus­ein­an­der­zu­set­zen, be­vor er an­ders­wo Hil­fe such­te, ging Bi­rot­teau die Rue Saint-Ho­noré bis zur Rue Bour­don­nais ent­lang, nicht ohne ein ihm sonst un­be­kann­tes Angst­ge­fühl, das ihn so hef­tig er­reg­te, daß er sei­ne Ge­sund­heit für er­schüt­tert hielt. Die Ein­ge­wei­de brann­ten ihm. In der Tat füh­len die Leu­te, die mit dem Zwerch­fell emp­fin­den, dort Schmer­zen, wäh­rend die Leu­te, die al­les mit dem Ver­stan­de auf­neh­men, Kopf­schmer­zen be­kom­men. Bei großen Kri­sen wird die phy­si­sche Na­tur dort an­ge­grif­fen, wo­hin die We­sens­an­la­ge des In­di­vi­du­ums den Sitz des Le­bens ver­legt hat; schwa­che Leu­te be­kom­men dann Ko­lik, Na­po­le­on ver­fiel in Schlaf. Be­vor die Zu­ver­sicht eh­ren­haf­te Men­schen so­weit vor­wärts treibt, daß sie alle Schran­ken des Stol­zes nie­der­wer­fen, müs­sen sie mehr als ein­mal im Her­zen die Spo­ren der Not­wen­dig­keit, die­ses har­ten Rei­ters, ver­spürt ha­ben! So hat­te sich auch Bi­rot­teau erst zwei Tage lang an­spor­nen las­sen, be­vor er sei­nen On­kel auf­such­te, und auch dann ent­schloß er sich erst aus Rück­sicht auf sei­ne Fa­mi­lie dazu: je­den­falls war er ge­zwun­gen, dem ge­stren­gen Ei­sen­händ­ler sei­ne Lage of­fen dar­zu­stel­len. Trotz­dem er­griff ihn vor der Tür das in­ne­re Schwä­che­ge­fühl, das je­des Kind emp­fin­det, wenn es zum Zahn­arzt geht; aber bei ihm be­zog sich die­ses Ge­fühl auf den Ge­samt­be­griff sei­nes Da­seins, nicht auf einen vor­über­ge­hen­den Schmerz. Lang­sam stieg Bi­rot­teau die Trep­pe hin­auf. Er fand den Al­ten am Ka­min­feu­er den Con­sti­tu­tion­nel le­send vor ei­nem klei­nen Tisch, auf dem sein fru­ga­les Früh­stück stand: ein Bröt­chen, But­ter, Brie­kä­se und eine Tas­se Kaf­fee.

      »Das ist der wah­re Wei­se«, sag­te Bi­rot­teau, der das Le­ben des On­kels be­nei­de­te.

      »Nun?« sag­te Pil­ler­ault und nahm sei­ne Bril­le ab, »ich habe ges­tern im Café Da­vid von der Af­fä­re Ro­guin ge­hört und von der Er­mor­dung der schö­nen Hol­län­de­rin, sei­ner Mätres­se! Ich hof­fe, du hast dir, auf uns­re Er­klä­rung hin, daß wir als ef­fek­ti­ve Ei­gen­tü­mer auf­tre­ten wol­len, die Quit­tung von Cla­paron ge­ben las­sen?«

      »Ach, lie­ber On­kel, das ist ja das Un­glück; du hast den Fin­ger auf die Wun­de ge­legt: Nein.«

      »Aber, zum Hen­ker! Dann bist du ja rui­niert«, sag­te Pil­ler­ault und ließ sei­ne Zei­tung fal­len, die Bi­rot­teau auf­hob, ob­wohl es der Con­sti­tu­tion­nel war. Pil­ler­ault wur­de von den Über­le­gun­gen, die er an­stell­te, so tief be­wegt, daß sein Ge­sicht, von dem stren­gen Schnitt ei­ner Me­dail­le, wie Me­tall un­ter dem Schlag des Stem­pels er­starr­te; mit star­rem Blick fi­xier­te er durch das Fens­ter die ge­gen­über­lie­gen­de Mau­er und hör­te Bi­rot­te­aus lan­ger Aus­ein­an­der­set­zung zu. Er prüf­te und ur­teil­te, er wog das Für und Wi­der ab mit der Uner­bitt­lich­keit ei­nes Mi­nos, der den Styx des Han­dels über­schrit­ten hat­te, als er den Quai des Mor­fun­dus ver­ließ, um sei­ne klei­ne Woh­nung im drit­ten Stock zu be­zie­hen.

      »Nun, lie­ber On­kel?« sag­te Bi­rot­teau, der eine Ant­wort er­war­te­te, nach­dem er mit der Bit­te ge­schlos­sen hat­te, Pil­ler­ault möch­te sech­zig­tau­send Fran­ken Ren­te ver­kau­fen.

      »Nein, mein ar­mer Jun­ge, das kann ich nicht, du bist zu stark kom­pro­mit­tiert. Die Ra­g­ons und ich, wir ver­lie­ren bei­de uns­re fünf­zig­tau­send Fran­ken. Die­se bra­ven Leu­te ha­ben auf mei­nen Rat ihre Wort­schi­ner Mi­nen­ak­ti­en ver­kauft: ich füh­le mich des­halb bei die­sem Ver­lus­te ver­pflich­tet, ih­nen zwar nicht das Ka­pi­tal zu er­set­zen, aber ih­nen hilf­reich bei­zu­sprin­gen, ih­nen, mei­ner Nich­te und Cäsa­ri­ne. Ihr wer­det euch viel­leicht alle nach Brot um­se­hen müs­sen, und das sollt ihr bei mir fin­den …«

      »Nach Brot, On­kel?«

      »Nun ja, ge­wiß, nach Brot. Du mußt den Din­gen, wie sie in Wirk­lich­keit ste­hen, ins Ge­sicht se­hen: Du wirst dich nicht her­aus­zie­hen kön­nen. Von fünf­tau­send­sechs­hun­dert Fran­ken Ren­te kann ich vier­tau­send ent­beh­ren und sie zwi­schen euch und den Ra­g­ons tei­len. Wie ich Kon­stan­ze ken­ne, wird sie bei ei­nem sol­chen Un­glück ar­bei­ten wie ein Ga­lee­renskla­ve und sich al­les ver­sa­gen, und du eben­so, Cäsar!«

      »Aber es ist doch noch nicht al­les ver­lo­ren, lie­ber On­kel.«

      »Ich sehe an­ders als du.«

      »Aber ich wer­de dir das Ge­gen­teil be­wei­sen.«

      »Nichts wür­de mich mehr er­freu­en.«

      Bi­rot­teau ver­ließ Pil­ler­ault ohne eine wei­te­re Ant­wort. Er war ge­kom­men, um Trost zu fin­den und Mut zu schöp­fen, und er emp­fing einen zwei­ten Schlag; die­ser traf ihn in Wahr­heit nicht so hef­tig wie der ers­te, aber er fiel nicht auf sei­nen Kopf, er traf ihn ins Herz; und das Herz war bei dem ar­men Man­ne das We­sent­li­che. Nach­dem er schon ei­ni­ge Stu­fen hin­ab­ge­stie­gen war, kehr­te er noch ein­mal um.

      »Herr Pil­ler­ault,« sag­te er kühl, »Kon­stan­ze weiß nichts da­von, ich bit­te, die Sa­che we­nigs­tens ge­heim zu hal­ten und auch Ra­g­ons zu er­su­chen, mir zu Hau­se nicht die Ruhe weg­zu­neh­men, die ich so nö­tig brau­che, um ge­gen das Un­glück an­kämp­fen zu kön­nen.«

      Pil­ler­ault mach­te eine zu­stim­men­de Ge­bär­de.

      »Du brauchst den Mut nicht zu ver­lie­ren, Cäsar«, füg­te er hin­zu; »ich sehe, daß du mir böse bist; aber spä­ter wirst du ge­rech­ter über mich ur­tei­len, wenn du an dei­ne Frau und dei­ne Toch­ter den­ken wirst.«

      Ent­mu­tigt durch die An­sicht sei­nes On­kels, den er für einen be­son­ders kla­ren Kopf hielt, stürz­te Cäsar von der Höhe sei­ner Hoff­nun­gen in den trü­ben Sumpf der Un­ge­wiß­heit hin­ab. Wenn bei sol­chen fürch­ter­li­chen Ge­schäfts­kri­sen ein Mann nicht eine so stäh­ler­ne See­le hat wie Pil­ler­ault, wird er zum Spiel­ball der Er­eig­nis­se; er folgt bald den Mei­nun­gen der an­dern, bald sei­nen ei­ge­nen, wie ein Wan­de­rer, der hin­ter Irr­lich­tern her­läuft. Er läßt sich von dem Wir­bel­sturm mit fort­rei­ßen, an­statt sich auf die Erde zu le­gen und nicht hin­zu­se­hen, wenn er vor­über­braust, oder sei­ne Bahn zu be­ob­ach­ten, um sie zu ver­mei­den. Mit­ten in sei­nem Schmer­ze er­in­ner­te sich Bi­rot­teau an den Pro­zeß we­gen der Ter­rain­hy­po­thek. Er be­gab sich nach der Rue Vi­vi­enne, zu Der­ville, sei­nem An­walt, um so­bald als mög­lich vor­zu­ge­hen, falls der An­walt eine Mög­lich­keit se­hen wür­de, den Ver­trag zu an­nul­lie­ren.