Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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von neun­und­fünf­zig Jah­ren, und gibt das Geld für ein Frau­en­zim­mer aus! … Die­ser alte Narr! Schon vor drei Wo­chen hat er zu mir ge­sagt, ich sol­le Cäsa­ri­ne nicht hei­ra­ten, denn Sie wür­den nichts mehr zu es­sen ha­ben; solch ein Scheu­sal!«

      Alex­an­der hät­te noch lan­ge so re­den kön­nen, Bi­rot­teau war wie ver­stei­nert. So vie­le Wor­te, so vie­le Keu­len­schlä­ge. Er hör­te nur den Klang der Ster­be­glo­cke, wie er zu An­fang nur die Brand­flam­men sei­ner Ver­nich­tung ge­se­hen hat­te. Alex­an­der Crot­tat, der den wür­di­gen Par­füm­händ­ler für stark und ver­mö­gend ge­hal­ten hat­te, war ent­setzt über sei­ne Bläs­se und sei­ne Starr­heit. Ro­gu­ins Nach­fol­ger ahn­te nicht, daß der No­tar Cäsar mehr als das Ver­mö­gen ge­raubt hat­te. Dem tief re­li­gi­ösen Kauf­mann schoß der Ge­dan­ke an Selbst­mord durch den Kopf. In ei­nem Fal­le, wie die­ser, ist Selbst­mord das Mit­tel, um tau­send To­den zu ent­ge­hen, es ist lo­gisch, daß man den einen vor­zieht. Alex­an­der Crot­tat faß­te Cäsar un­ter den Arm und woll­te ihn mit fort­zie­hen, aber das war un­mög­lich: sei­ne Bei­ne ge­horch­ten ihm nicht, wie wenn er be­trun­ken wäre.

      »Was ist Ih­nen denn?« sag­te Crot­tat. »Ein biß­chen Mut, mein gu­ter Herr Cäsar! So et­was bringt einen Men­schen noch nicht um. Vier­zig­tau­send Fran­ken wer­den Sie üb­ri­gens wie­der­be­kom­men, der Dar­lehns­ge­ber hat­te den Be­trag nicht flüs­sig, er ist Ih­nen nicht aus­ge­hän­digt wor­den, Sie kön­nen auf Un­gül­tig­keits­er­klä­rung des Ver­tra­ges kla­gen.«

      »Der Ball, der Or­den, zwei­hun­dert­tau­send Fran­ken Platz­wech­sel und nichts in der Kas­se. Die Ra­g­ons – Pil­ler­ault … Und mei­ne Frau, die das ge­ahnt hat!«

      Ein Strom un­zu­sam­men­hän­gen­der Wor­te, die die Fül­le nie­der­schmet­tern­der Ge­dan­ken und fürch­ter­li­cher Schmer­zen ver­rie­ten, er­goß sich wie ein Ha­gel­schau­er, der alle Blü­ten dar Ro­sen­kö­ni­gin ver­nich­te­te.

      »Ich woll­te, man schlü­ge mir den Kopf ab,« sag­te Bi­rot­teau end­lich, »er ist mir so schwer und zu nichts mehr nüt­ze …«

      »Ar­mer Va­ter Bi­rot­teau,« sag­te Alex­an­der, »steht es denn so ge­fähr­lich um Sie?«

      »Ge­fähr­lich!«

      »Fas­sen Sie nur Mut und neh­men Sie den Kampf auf.«

      »Kampf!«

      »Du Til­let ist doch Ihr An­ge­stell­ter ge­we­sen, das ist ein klu­ger Kopf, er wird Ih­nen hel­fen.«

      »Du Til­let?«

      »Vor­wärts, kom­men Sie nur!«

      »Ach Gott, in die­sem Zu­stand kann ich nicht nach Hau­se ge­hen«, sag­te Bi­rot­teau. »Sie sind doch mein Freund, wenn es über­haupt noch Freun­de gibt, ich habe mich für Sie in­ter­es­siert, und Sie ha­ben an mei­nem Ti­sche ge­ges­sen – Xan­d­rot, im Na­men mei­ner Frau bit­te ich Sie, neh­men Sie einen Wa­gen und brin­gen Sie mich nach Hau­se!« Der jun­ge No­tar setz­te eine fast leb­lo­se Mas­se, die den Na­men Cäsar führ­te, mit großer Mühe in den Wa­gen. »Xan­d­rot,« sag­te der Par­füm­händ­ler mit trä­nen­er­stick­ter Stim­me, denn jetzt end­lich flos­sen ihm die Trä­nen und lo­cker­ten ein we­nig das ei­ser­ne Band, das ihm den Kopf zu­sam­men­preß­te, »las­sen Sie bei mir hal­ten und spre­chen Sie statt mei­ner mit Cöles­tin. Sa­gen Sie ihm, lie­ber Freund, daß es sich um mein und mei­ner Frau Le­ben han­delt. Un­ter kei­ner Be­din­gung darf je­mand über Ro­gu­ins Ver­schwin­den ein Wort fal­len las­sen. Ru­fen Sie Cäsa­ri­ne her­un­ter und bit­ten Sie sie, auf­zu­pas­sen, daß ihre Mut­ter nichts von der Sa­che er­fährt. Sie soll auf uns­re bes­ten Freun­de, Pil­ler­ault, die Ra­g­ons, auf je­den ein­zi­gen acht­ge­ben.«

      Die Ver­än­de­rung in Bi­rot­te­aus Stim­me ging Grot­tat nahe, der die Wich­tig­keit die­ses Auf­trags ein­sah. Die Rue Saint-Ho­noré brach­te sie di­rekt zu Bi­rot­te­aus Woh­nung; er ent­sprach dem Wun­sche des Par­füm­händ­lers, den Cöles­tin und Cäsa­ri­ne ent­setzt, wort­los, bleich und wie er­starrt im Wa­gen sit­zen sa­hen.

      »Hal­ten Sie die Sa­che ge­heim«, sag­te der Par­füm­händ­ler.

      »Ah, er kommt wie­der zu sich,« sag­te sich Xan­d­rot, »ich dach­te schon, er wäre hin­über.«

      Die Kon­fe­renz zwi­schen Alex­an­der Crot­tat und dem Be­am­ten dau­er­te lan­ge; man ließ den Prä­si­den­ten der Notar­kam­mer ho­len; Cäsar wur­de über­all wie ein Pa­ket her­um­ge­schleppt; er rühr­te sich nicht und sprach kein Wort. Ge­gen sie­ben Uhr abends brach­te Alex­an­der Crot­tat den Par­füm­händ­ler nach Hau­se. Der Ge­dan­ke, daß er nun vor Kon­stan­ze tre­ten müs­se, gab Cäsar die Spra­che wie­der. Der jun­ge No­tar war so ge­fäl­lig, vor­an­zu­ge­hen und Frau Bi­rot­teau zu be­nach­rich­ti­gen, daß ihr Mann eben eine Art Schlag­an­fall ge­habt hät­te.

      »Er re­det ganz un­zu­sam­men­hän­gend,« sag­te er mit ei­ner Ge­bär­de, die eine Geis­tes­ver­wir­rung an­deu­ten soll­te, »man müß­te ihm zur Ader las­sen oder Blut­egel an­set­zen.«

      »Das muß­te so kom­men,« sag­te Kon­stan­ze, die weit ent­fernt war, ein Un­heil zu ah­nen, »er hat zu An­fang des Win­ters sei­ne Me­di­zin, die vor­beu­gen soll, nicht ge­nom­men und ar­bei­tet seit zwei Mo­na­ten wie ein Ga­lee­ren­sträf­ling, als ob er nichts zu es­sen hät­te.«

      Cäsar wur­de von Frau und Toch­ter drin­gend ge­be­ten, sich ins Bett zu le­gen, und man ließ den al­ten Dok­tor Hau­dry, Bi­rot­te­aus Arzt, ho­len. Die­ser alte Hau­dry war ein Arzt aus der Schu­le Mo­lières, ein sehr er­fah­re­ner Prak­ti­ker und ein Freund des al­ten Re­zep­te­ver­schrei­bens, ein so gu­ter Dia­gno­s­ti­ker er sonst war. Er kam, prüf­te Cäsars Aus­se­hen und ver­ord­ne­te, daß ihm so­fort Senf­pflas­ter auf die Fuß­soh­len ge­legt wer­den soll­ten: er glaub­te die Sym­pto­me ei­ner Ge­hirn­kon­ge­s­ti­on zu er­ken­nen.

      »Wo­her kann das nur ge­kom­men sein?« frag­te Kon­stan­ze.

      »Von dem nas­sen Wet­ter«, sag­te der Dok­tor, dem Cäsa­ri­ne einen Wink ge­ge­ben hat­te.

      Die Ärz­te sind häu­fig ge­nö­tigt, wis­sent­lich Un­sinn zu re­den, um Ehre oder Le­ben der Um­ge­bung des Kran­ken zu ret­ten. Der alte Dok­tor hat­te in sei­nem Le­ben so vie­les zu se­hen be­kom­men, daß er jede An­deu­tung ver­stand. Cäsa­ri­ne be­glei­te­te ihn hin­aus und frag­te nach Ver­hal­tungs­maß­re­geln.

      »Ruhe und nicht re­den; wenn der Kopf frei ge­wor­den sein wird, wer­den wir Stär­kungs­mit­tel an­wen­den kön­nen.«

      Frau Kon­stan­ze ver­brach­te zwei Tage am Bet­te ih­res Man­nes, der ihr oft zu de­li­rie­ren schi­en. Er lag in dem schö­nen blau­en Zim­mer sei­ner Frau und hielt Kon­stan­ze un­ver­ständ­li­che Re­den, wenn er die Vor­hän­ge, die Mö­bel und die teu­re Aus­stat­tungs­pracht an­sah.

      »Er re­det irre«, sag­te sie zu Cäsa­ri­ne, als Cäsar sich auf­ge­rich­tet hat­te und in fei­er­li­chem Tone stück­wei­se Stel­len aus dem Han­dels­ge­setz­buch zi­tier­te.

      »Wenn die Aus­ga­ben für über­mä­ßig an­ge­se­hen wer­den! … Nehmt doch die Vor­hän­ge weg!«

      Nach drei schreck­li­chen Ta­gen, wäh­rend de­ren Cäsars Ver­stand in Ge­fahr schweb­te, sieg­te