»Wieso kann ich nicht erklären; du mußt mir glauben.«
»Gut. Und wie geht es weiter?«
»Er wird dafür zum Tode verurteilt.«
»Seit wann wird man zum Tode verurteilt, wenn man sagt, daß die Erde sich dreht?«
»Früher war das so.«
»Du, das ist ein blödes Stück; in das gehen wir nicht.«
Bei der Premiere von »Turandot« fragt mich Mutter während des Spieles mit halblauter Stimme:
»Du Lina, was ist das: ein Eunuch?« Die Nebensitzenden lachten.
Ich sagte leise: »Das werde ich dir zu Hause erklären.« Sie erwiderte, recht unbekümmert um unsre Nachbarn: »Du immer mit deinen Geheimnissen!«
Alles brüllte vor Lachen.
Nachdem sie eine Weile den Vorgängen auf der Bühne gefolgt war, sagte sie stolz:
»Du brauchst mir nichts mehr zu erklären; ich weiß schon alles.«
Ich bat sie beschwörend, ruhig zu sein, aber sie war nicht mehr aufzuhalten.
Alles horchte.
»Ich möchte nur wissen, warum du dich so patzig machst – es ist ein böser Mensch, das sieht doch jeder.«
Wir waren bei der Generalprobe von »Don Carlos«. Um halb vier Uhr bat ich Mutter, fortzugehen. Sie sagte »Nein! Dieses Stück interessiert mich sehr. Um was handelt es sich da?«
»Mutter, ich bin schon so müde, ich habe das Buch zu Hause; willst du nicht fertig lesen?«
»Gut; ich werde es lesen! Ein sehr gutes Stück! Von wem ist es denn?«
»Von Schiller.«
Abends lege ich ihr das Buch hin: »Mutter, da ist der ›Don Carlos‹!«
»Ich will es nicht.«
»Aber du hast doch gesagt, du willst es lesen.«
»Ich habe gesagt, ich will den ›Don Carlos‹ lesen, weil ich nicht gewußt habe, von wem er ist, Schiller lese ich nicht, dazu bin ich zu alt.«
Mein Bruder brachte Mutter eine Karte zu »Nathan der Weise«. Nach der Vorstellung sagte sie: »Es war ganz nett, ich habe mich nur gewundert, wie viele Erwachsene im Burgtheater zu Kindervorstellungen gehen.«
Mutters Einstellung zur Politik war auch eine sehr merkwürdige.
Bei einem so großen Kaffeehauspersonal gab es oft begreifliche Differenzen wegen Urlaubes, Kündigungen und so weiter. Solche Dinge erledigte sie einfach damit, daß sie ihren Angestellten drohte, zu Viktor Adler zu gehen. Daß er der Führer der Sozialdemokraten war, genierte sie gar nicht. Für sie war Viktor Adler der Inbegriff von Gerechtigkeit und Weisheit, und sie zweifelte gar nicht, daß er sich ihrer annehmen würde, wenn sie sich im Recht fühlte. Sie hatte aber nie nötig hinzugehen, die Drohung genügte immer, die Gegenpartei teilte anscheinend ihre Ansicht.
Mutter und der Erste Weltkrieg
Mutter war gegen den Krieg. Details interessierten sie nicht. Kleine Verwechslungen von Freund und Feind kamen täglich vor. Im Frieden war sie jedesmal, wenn der Kaiser über die Mariahilfer Straße fuhr, hinausgegangen, hatte sich vor das Kaffeehaus gestellt und den Kaiser gegrüßt. Er kannte sie schon und dankte ihr höflichst.
Aber seit Ausbruch des Krieges ging sie nicht mehr hinaus, ich weiß nicht, ob es dem Kaiser aufgefallen ist, es war jedenfalls ihre Art, gegen den Krieg zu demonstrieren.
Sie fühlte sich verpflichtet, mit Gästen Gespräche über die wichtigsten Tagesereignisse zu halten. Dies führte während der Kriegszeit oft zu Mißverständnissen, da sie den Betrieb dabei nicht aus den Augen ließ und etwas zerstreut war. Zum Beispiel:
Eine Dame: »Mein Gott, die Russen! Sie dringen vor.« Mutter: »Und Warschau sollen sie auch schon haben.« Dame: »Warschau??«
Ich mische mich ein: »Mutter, Warschau gehört den Russen.«
»Mutter: »Seit wann?« Ich: »Schon lange.«
Mutter: »Aber geh! Was jetzt alles zusammengeredet wird.
Man weiß wirklich nicht, wem man glauben soll.«
Im ersten Kriegsjahr kam Mutter eines Morgens sehr aufgeregt in die Wohnung hinauf und sagte:
»Es gelingt also unsern Feinden doch, uns auszuhungern.«
»Was ist geschehen?«
»Wir bekommen nur mehr drei Kilo Kaffee täglich.«
»Deswegen werden wir nicht verhungern.«
»So, wieso werden wir nicht verhungern?«
»Weil der Kaffee keinen Nährwert hat.«
»Ah, der Kaffee hat keinen Nährwert?«
»Er hat keinen.«
»Auf einmal hat der Kaffee keinen Nährwert?!«
»Er hat nie einen gehabt.«
»Das ist das erste, was ich höre; nein, so etwas: Der Kaffee hat keinen Nährwert!?«
»Er hat keinen.«
»Er hat keinen, so, na und die Milch?«
Ich beobachtete sie einmal, wie sie die Kriegsberichte las.
»Mutter, du liest die Kriegsberichte?«
»Ja; ich denke mir dabei, wie interessant das für Leute sein muß, die wissen, wo das ist.«
Der Mann, der nur glücklich sein wollte
Die Menschen wollen reich sein oder berühmt oder mächtig, ohne viel dazu zu tun; sie möchten geliebt werden, eigentlich auch nur so für nichts und wieder nichts. Aber so einfach ist es im Leben nicht.
Ihr Wollen ist gewöhnlich ohne jede Voraussetzung.
Ich denke jetzt an die beiden armen hungrigen Männer, die bei Sacher vorbeigehen. Der eine wirft einen wehmütigen Blick hinein und sagt: »Wie gern möchte ich wieder einmal da essen«, und der andere fragt voll Erstaunen: »Hast du denn schon einmal bei Sacher gegessen?« – »Nein, aber gemocht habe ich schon einmal.«
Aber einem Menschen bin ich begegnet, der wirklich etwas Wünschenswertes erstrebte, der es sich Zeit und Geld kosten ließ, um den für seine Person glücklichsten Zustand zu erreichen.
Die Geschichte ist viel zu wahr, um nicht grotesk zu sein; unbegreiflicherweise kümmert sich das Leben gar nicht um unsre Meinung.
Dieser Mann war jung, reich, Fabrikbesitzer, verheiratet, ein angesehener Bürger in den geordnetsten Verhältnissen. Wann die sonderbare Idee in seinem Gehirn entstand, zu alldem auch noch glücklich zu sein, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls beschloß er, auf keinen Fall so weiterzuleben. Um seine Frau ein wenig aufzurütteln, nahm er sich eine Freundin; seine Frau drückte ein Auge zu, alles blieb beim alten. Nun begann er sich mit seiner auffallend schönen Freundin überall öffentlich