Lina Loos

Das Buch ohne Titel


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      Nicht immer kann man was erzählen, wenn man eine Reise tut; manchmal kann es der, der zu Hause bleibt. In meiner Geschichte ist es so. Es ist viele Jahre her, daß sie passierte.

      Ich hatte eben die Schule beendet, da fuhr ich mit meinem Vater nach München, um meine jung verheiratete Schwester zu besuchen. Mein Bruder spielte als Anfänger an irgendeinem Provinztheater. Meine Mutter blieb allein in Wien, genoß die ungewohnte Stille, gedachte ihrer endlich flügge gewordenen Jungen, putzte das Nest, stellte die Federn auf und machte sich dick und rund vor Wohlbehagen.

      Es waren die ersten heißen Sommertage, Mutter hatte eben ihr Mittagsschläfchen beendet – als es läutete.

      Vor der Tür standen ein verlegener junger Mann und eine junge blonde Frau mit einem Säugling auf dem Arm. Beide überstürzten meine Mutter mit Fragen.

      Warum sie nicht auf der Bahn gewesen sei. Und ob der Brief meines Bruders nicht angekommen wäre. Und ob sie nicht wisse, daß sie auf der Durchreise in Wien seien. Und ob sie nicht glaube, daß die Eltern jetzt die Einwilligung zur Heirat geben müßten. Und um zehn Uhr abends gehe der Zug, um neun Uhr würden sie das Kind holen, und ob sie das Kind so lange hier lassen könnten. Und sie müßten sich doch Wien ansehen, und sie müßten noch einmal das Kind küssen, und es heiße Paul, und fort waren sie.

      Meine Mutter hatte nicht so genau hingehört; jeder Säugling versetzte sie in wilde Begeisterung, sie behauptete kühn, nichts auf der Welt rieche so gut wie ein kleines Kind. Eine Ansicht, die von Nichtmüttern oft bestritten wird.

      Kaum allein, entwickelte sie eine fieberhafte Tätigkeit. Das Kind wurde trockengelegt, gebadet, und als es erschöpft eingeschlafen war, setzte sich Mutter hin und schrieb uns einen Brief nach München. Dann ging sie Milch holen. Im Hofe traf sie die Hausbesorgerin und erzählte ihr lachend, daß sie zu einem Kind gekommen sei. Die Hausbesorgerin aber lachte nicht, sah meine Mutter an und sagte nur: »Sehr merkwürdig.«

      Mutter ging nachdenklich in die Wohnung.

      Sie wartete, wartete lange. Sie wartete sehr lange. Um zehn Uhr abends ging sie zur Hausbesorgerin:

      »Hab ich’s Ihnen nicht gleich gesagt? Wie kann man denn ohneweiters ein Kind nehmen?«

      »Gott, sie werden eben den Zug versäumt haben«, meinte Mutter, »morgen früh werden sie schon kommen.«

      »Das kriegen Sie nimmer los, das Kind.«

      »Das wäre nicht schlecht«, sagte Mutter und zog sich zu Paul, der sich äußerst wohl befand, in die Wohnung zurück.

      Frühmorgens versuchte sie, ungesehen und mit versteckter Milchflasche, an der Hausbesorgerwohnung vorbeizukommen. Aber vergeblich. Die Hausbesorgerin wünschte ihr mit lachendem Gesicht »einen recht guten Morgen«.

      So gegen Mittag begann sie bei den Parteien ganz unter der Hand anzufragen, ob jemand ein Kind annehmen würde, aber alles war versehen. Es herrschte im Hause wirklich kein Mangel an Kindern, es wurden ihr sogar noch einige angeboten.

      Sie wartete noch einen ganzen Tag, dann faßte sie einen fürchterlichen Entschluß. Sie begab sich mit Paul, stolz an der Hausbesorgerin vorbei, zur Polizei.

      Hier saß Mutter mit Paul und einer großen Milchflasche auf einer Bank im Hintergrund der Wachstube und wartete.

      Ein junger Polizeibeamter schrieb eifrig, es war heiß und still.

      »Was wünschen Sie?« rief er plötzlich. Paul erschrak fürchterlich und brüllte auch schon wie besessen; das war aber gar nichts gegen die Angst meiner Mutter.

      Sie stand zitternd auf und sagte: »Bitte, meinen der Herr Wachtmeister mich?«

      »Natürlich, es ist doch sonst niemand da! Also?« Der Wachtmeister war sichtlich erbittert. Mutter erzählte den Hergang. Er warf die Feder fort und erklärte, so etwas Unerhörtes noch nie gehört zu haben. »Also, man braucht bei Ihnen nur zu läuten und ein Kind abzugeben, und schon nehmen Sie es? Ja, sagen Sie mir, wie alt sind Sie denn? Da hört sich doch alles auf, wie heißen die Leute, wo wohnen sie?«

      »Ich habe nicht gefragt«, stammelte Mutter, »sie haben nur gesagt, mein Sohn schickte sie.«

      »Verstehen Sie denn nicht, daß das jeder sagen kann? Was soll denn jetzt mit dem Kind geschehen?«

      »Ich nehme es auf keinen Fall mehr mit«, sagte Mutter.

      »So, wie können Sie sich überhaupt unterstehen, ein fremdes Kind zwei Tage bei sich zu behalten? Sie hätten augenblicklich kommen müssen.«

      Dann kam er noch einmal in beleidigender Form auf das Alter meiner Mutter zu sprechen und ließ den Polizeiarzt holen. Paul wurde ausgezogen und einer gründlichen Musterung unterzogen. Der Arzt drehte und wendete ihn nach allen Seiten, behorchte und beklopfte ihn; aber Paul war einfach tadellos. Mutter wurde ganz stolz, sie hatte doch wenigstens ein einwandfreies Kind gebracht. So eines wurde nicht jeden Tag abgegeben.

      Dann fuhr sie in einer Droschke mit Paul, der Milchflasche und einem Aufnahmeschein in das Findelhaus. Dort wurde Paul gewogen, bekam einen Zettel um den Hals, der Mutter wurde eine Nummer eingehändigt, und alles war erledigt. Nun kam der schöne Moment, als Mutter an das Fenster der Hausbesorgerin klopfte, die Arme ausbreitete und sich nach allen Seiten drehte, um zu zeigen, daß sie nirgends mehr ein Kind habe.

      In München hatte sich inzwischen folgendes begeben. Wir saßen alle gemütlich beim Frühstück, als der Brief der Mutter kam.

      Meine Schwester las vor: »Liebe Kinder! Ihr werdet sehr erstaunt sein, ich habe ein Kind bekommen.« Meine Schwester ließ den Brief sinken. Wir sahen alle drei auf den Vater, aber der sah ebenso erstaunt drein. Meine Schwester las weiter: »Freunde Eures Bruders Karl haben es mir gebracht …« Da sahen wieder alle auf mich, es wurde nicht weitergelesen. Meine Schwester zog sich mit meinem Schwager zu einer längeren Aussprache zurück. Dann zog sich mein Schwager mit meinem Vater zurück, meine Schwester blieb bei mir und weinte. Dann zog sich mein Vater mit meiner Schwester zurück, und endlich wurde ein Telegramm an meine Mutter abgeschickt.

      Mutter schlief in Wien tief und fest bis abends – als es plötzlich läutete. Draußen standen die jungen Leute. Wieder stürzten sie mit einem Wortschwall über sie her. Es wäre so schön gewesen in Wien, und sie hätten doch gleich gesehen, wie lieb die Mutter ihres Kollegen sei, und sie sollte doch nicht böse sein. Eigentlich wollten sie gleich zwei Tage in Wien bleiben, aber sie hätten es sich nicht zu sagen getraut, es wäre doch zu unverschämt gewesen, aber Mutter würde ihnen doch verzeihen, und sie seien doch noch jung …

      Mutter schwankte und mußte auf einen Stuhl gesetzt werden.

      Neue Fragen. Ob sie krank sei und ob es etwas Ansteckendes sei und ob Paul nichts bekommen könnte. Und wo Paul sei.

      »Er ist nicht mehr da«, flüsterte Mutter.

      »Wo ist mein Kind?« schrie die junge Frau mit einem Stimmaufwand, der keinen Zweifel mehr zuließ, daß sie eine Kollegin meines Bruders war.

      Der junge Mann hatte gerade noch Zeit, meine Mutter von ihrem Stuhl hochzureißen, um seiner Braut Platz zu machen. Mutter hatte sich aber schon gefaßt, und während sie der jetzt Fassungslosen mit der Schürze Luft zufächelte, sagte sie:

      »Na, na, gehn wir’s eben wieder holen.«

      Als Mutter kühn voran, die beiden Jüngeren hinterher den Hof überquerten, waren alle Fenster schon dicht besetzt. Einige rohe Naturen winkten mit Taschentüchern.

      »Zuerst wieder auf die Polizei!« kommandierte Mutter.

      Der Beamte erhob sich drohend, als er Mutter erblickte. Kaum hatte er aber die schöne junge, elegante Frau gesehen, fragte er nach einer kleinen Verbeugung, womit er dienen könne.

      Während die beiden in ihrer anscheinend angeborenen temperamentvollen Weise redeten, zog sich Mutter auf die Bank im Hintergrund zurück.

      Aber man ließ sie dort nicht sitzen. Der Beamte, außer sich vor Empörung, zog sie in den Vordergrund. Er erklärte wieder, daß ihm so etwas