Lina Loos begannen Wanderjahre – offensichtlich wollte sie auch räumlichen Abstand zu den Ereignissen gewinnen, die so großes Leid und Aufsehen verursacht hatten. Die abgeschlossene Schauspielausbildung kam ihr zugute und ein Engagement an das deutschsprachige Irving Place Theater in New Haven, U.S.A., kam zur rechten Zeit: Am 18. Jänner 1905 verließ sie Europa an Bord der »S.S. Deutschland«; in Genua erreichte sie noch ein letzter Brief von Adolf Loos, der möglicherweise noch mit ihrer Rückkehr rechnete, und eine Glückwunschnote von Laura Beer – auch sie eine Selbstmordkandidatin.
Unter dem Pseudonym »Carry Lind« trat sie am 15. März 1905 in Amerika als »Luise« in Kabale und Liebe erstmals auf und konnte einen Erfolg bei Presse und Publikum buchen. Doch es hielt sie nicht lange in der Neuen Welt – und wenn Franz Theodor Csokor Jahrzehnte später schreibt, das Leben von Lina Loos sei zwischen den Fixpunkten New York und Sievering verlaufen, so handelt es sich zweifellos um den liebevollen, aber gar nicht nötigen Versuch, die bewunderte Frau zur Weltbürgerin zu stilisieren. Denn schon nach wenigen Monaten kehrte sie nach Europa zurück und spielte, ihr Pseudonym häufig wechselnd, an diversen Theatern in Norderney, Berlin, Leipzig und St. Petersburg.
Die einverständliche Trennung der Ehe mit Adolf Loos »wegen unüberwindlicher Abneigung« wurde am 19. Juni 1905 gerichtlich bestätigt. Bis 1906 ist Lina Loos noch in der gemeinsamen Wohnung in der Giselastraße gemeldet; drei Jahre später findet sie dann die Wohnung, die bis zu ihrem Tod ihr geliebtes Refugium bleiben soll: in dem eben fertiggestellten Haus in der Sieveringer Straße 107, das ein Mitarbeiter von Adolf Loos, Ernst Epstein – der spätere Bauleiter des »Loos-Hauses« am Michaelerplatz –, entworfen hat. Zunächst nur als Sommerwohnung gemietet und mit den Möbeln ausgestattet, die sie aus der Giselastraße mitnimmt, wird sie nach einer gründlichen Renovierung ab 1911 zu ihrem ständigen Wohnsitz. Die Einrichtung durch Adolf Loos – vor allem die Rekonstruktion des ganz in Weiß gehaltenen Schlafzimmers – dürfte Teil des Arrangements zwischen den Geschiedenen gewesen sein, da Loos ja die mit dem Geld der Obertimpflers finanzierte Wohnung in der Giselastraße für sich behielt.
Für die Schriftstellerin Lina Loos waren die Jahre zwischen 1904 und 1919 wenig ertragreich. Sie wechselt oft die Engagements als Schauspielerin, ein chronisch werdendes Lungenleiden verursacht immer wieder Unterbrechungen ihrer Arbeit. Anfang 1907 muss sie mehrere Monate im Sanatorium Schwarzeck im Schwarzwald verbringen. Im Oktober dieses Jahres ist sie einer der Stars im neueröffneten »Cabaret Fledermaus« in Wien.
Auch 1908, im zweiten Jahr der von der »Wiener Werkstätte« eingerichteten »Fledermaus«, ist Lina Loos als Diseuse und Rezitatorin mit dabei; sie beteiligt sich auch, zusammen mit Friedell, an deren Gastspielen in Deutschland. Zwei Jahre später ist sie am »Linden-Cabaret« in Berlin engagiert und – schon während des 1. Weltkriegs – auch im »Cabaret Simplicissimus« in Wien. Meist tritt sie in diesen Jahren unter dem Künstlernamen »Lina Vetter« auf – was auf einen neuen Mann in ihrem Leben verweist, dem sie sich zugehörig gefühlt hat; auch in der Korrespondenz und in den Anmerkungen Csokors taucht ein »Herr Vetter« auf, dem Lina Loos nahestand.
Die für sie wichtigste Beziehung in jener Zeit bestand aber zweifellos zu Dr. Herbert Fries, einem jungen Anwalt, der wie sie in der Sieveringer Straße wohnte. Bei Ausbruch des 1. Weltkriegs wurde Dr. Fries an die Ostfront geschickt, er fiel schon im ersten Kriegsjahr. Als Csokor, Linas allzeit getreuer Paladin, auf seiner Flucht von Polen nach Rumänien während des 2. Weltkriegs durch Rawa Ruska kam – den Ort, wo Dr. Fries umgekommen war –, versäumte er es nicht, von dort an Lina zu schreiben und ihres toten Verlobten zu gedenken.
Bevor Dr. Fries 1914 zum Militär eingezogen wurde, hatte er noch sein Testament verfasst, das im Falle seines Todes die jährliche Auszahlung einer größeren Summe an Lina Loos vorsah. Sie weigerte sich, dieses Legat anzunehmen.
Lina Loos mag diesen für ihr Unabhängigkeitsstreben so charakteristischen Entschluss später vielleicht bereut haben – denn mit dem Verlust und Verkauf des »Café Casa Piccola« noch vor Ende des Krieges war auch die finanzielle Basis verloren, die ihr – und ihrem Bruder Karl – bisher die ernsthaftesten Existenzsorgen erspart hatte. In späteren Jahren hat sie, wenn es ihr schlecht ging, gelegentliche finanzielle Zuwendungen ihrer Freunde – vor allem Friedell und Csokor – nicht mehr zurückgewiesen.
Ende 1914 wird ihr Lungenleiden wieder akut und die Eltern ermöglichen ihr – zum letzten Mal – einen längeren Sanatoriumsaufenthalt in Davos. Sie genießt diese Zeit in der von allem Kriegsgeschehen abgeschotteten Schweiz so gut es geht, betreibt Wintersport und lässt sich auf ablenkende Flirts mit anderen Patienten ein – doch hinter all diesen Vordergründigkeiten lauert überwältigend die unbarmherzige Dimension des Krieges, die sie nicht wegschieben kann – im Gegensatz zu den anderen Kranken, die fast ausschließlich um ihr jeweiliges Tagesbefinden bangen. Vermutlich haben die Monate in Davos den Anstoß dazu gegeben, dass Lina Loos zur engagierten Schriftstellerin geworden ist. Ab 1919 finden wir Artikel, Aphorismen, Feuilletons und Theaterszenen von Lina Loos mit zunehmender Häufigkeit in Zeitschriften und Tageszeitungen abgedruckt; sie selbst hat diese Arbeiten zunächst vermutlich als willkommenen Extraverdienst und als journalistisches Nebenprodukt einer Schauspielerin taxiert – nie fehlt neben ihrem Autorennamen der stolze Hinweis »Mitglied des Deutschen Volkstheaters« oder, ab 1933, »Mitglied der Scala (Wien)«, Von 1921 bis 1936 ist sie an diesen Theatern, die beide von Direktor Dr. Rudolf Beer geleitet wurden, engagiert.
Am 8. März 1921 wird ihr einaktiges Stück Mutter am Deutschen Volkstheater in Wien uraufgeführt und kommt in einer broschierten Ausgabe im Gloriette-Verlag heraus. Formal und inhaltlich total einem expressionistischen Gestus verpflichtet – und vermutlich von Csokor inspiriert, dessen Rote Straße im selben Jahr in Brünn, von Dr. Rudolf Beer inszeniert, herauskam und seine erfolgreiche Karriere als Dramatiker einleitete – zeigt diese Arbeit eine ihren gültigen Ausdruck noch suchende Lina Loos. Es bleibt – trotz wohlwollender Kritiken – die einzige Bühnenaufführung eines ihrer Stücke zu Lebzeiten.
Bis in die Dreißigerjahre hat Lina Loos noch weitere Bühnenwerke verschiedenen Genres verfasst; und 1937, zusammen mit dem befreundeten filmerfahrenen Schauspieler Rudolf Forster (dem unvergessenen »Mackie Messer« aus dem Dreigroschenoper-Film, der auch als Bühnen- und Filmpartner von Elisabeth Bergner brillierte) ein ausführliches »Treatment für Tonfilm«, Schau in die Ewigkeit (Legende vom inneren Licht).
Keines dieser Projekte konnte realisiert werden. Sie zeigen auch nicht sehr viel von der eigentlichen Lina Loos.
Großen Erfolg und Anklang fanden dagegen ihre Geschichten und Feuilletons, die zwischen 1927 und 1943 – zunächst allwöchentlich, mit Beginn des 2. Weltkriegs immer seltener – in der Wochenausgabe des »Neuen Wiener Tagblattes« erschienen sind. Schon Anfang der Dreißigerjahre schlug Csokor ihr vor, die besten dieser Texte in einem Buch zu sammeln, da sie zu schade seien für einen einmaligen Abdruck in Tageszeitungen. Erst 1947 sollte es mit der Publikation von Das Buch ohne Titel zur Verwirklichung dieses Vorhabens kommen.
Die Jahre bis zum Kriegsausbruch verbrachte Lina Loos fast ausschließlich in Wien: zwischen ihrer Wohnung in Sievering und dem Theater, wo sie – zur Erleichterung karrierebewusster Kolleginnen – nur die kleineren Rollen spielte und sich selbst vor diesen zu drücken versuchte, wenn immer es nur ging. Sie besuchte Cafés und Stammtische und gelegentlich, zusammen mit Csokor und Friedell, die literarischen und gesellschaftlichen Wiener Salons. Im Herbst 1927 unternahm sie eine kurze Reise nach Berlin, um dort die junge Schauspielerin Margarethe Köppke zu besuchen, die zum intimsten Freundeskreis gestoßen war; 1930 starb die psychisch labile, am Anfang einer großen Karriere stehende junge Frau durch Selbstmord. Lebenslange Freundschaften entstanden in dieser Zeit auch mit Kerstin Strindberg, der Tochter des großen Schriftstellers, die während des Krieges und auch in der ersten Zeit danach, Lina Loos mit Lebensmittelpaketen und Medikamenten aus Schweden versorgte; und mit Leopoldine Rüther, Angestellte bei der Österreichischen Tabakregie, die Lina Loos in den schweren Jahren umsorgte und pflegte und von ihr zur Erbin und Nachlasswalterin bestimmt wurde. Die begabte Zeichnerin »Le« Rüther hat auch die Erstausgabe von Das Buch ohne Titel illustriert.
Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und dem Freitod Egon Friedells am 16. März 1938 – er stürzte sich aus dem Fenster