Leben selbst ein Ende gesetzt. Am Theater hatte man keine Verwendung mehr für sie, und auch ihre Publikationsmöglichkeiten waren drastisch eingeschränkt. Zu ihrer Lungenkrankheit gesellte sich auch noch ein Nierenleiden; beide verschlechterten sich zusehends, war es doch in den Kriegs- und Nachkriegsjahren so gut wie unmöglich, die erforderlichen Medikamente und eine geeignete Diät zu erhalten. Wenn es ihr besonders schlecht ging, so, dass sie nicht einmal mehr die Kraft aufbringen konnte, selbst zu schreiben, diktierte sie der treuen Gefährtin Leopoldine Rüther ihre Briefe und alles, was sie schriftlich festhalten wollte.
Während der letzten Jahre ihres Lebens befasste sich Lina Loos vor allem mit der Ausarbeitung eines umfangreichen philosophischen – am ehesten der Theosophie zuzurechnenden – Werkes mit dem Titel: Primitive Vorstellungen einer Frau vom Anfang bis zum Ende alles irdischen Geschehens: bereits 1937 begonnen und ihrem Lebensmenschen Leopoldine Rüther gewidmet, werden in 14 Kapiteln Themen wie Das Verharrende schließt das Treibende ein, Kraftfelder, Entartungen der Zelle oder Der Weg zu Gott abgehandelt. Bibelzitate, symbolistische Gedichte, dramatische Skizzen und farbige schematische Zeichnungen ergänzen das Werk, das unvollendet geblieben ist.
1947 erschien Das Buch ohne Titel, Lina Loos’ einzige Buchveröffentlichung zu Lebzeiten. Nach 1945 begann sie dann wieder zu schreiben – jetzt im »Österreichischen Tagebuch« und in der kommunistischen »Stimme der Frau«: die Geschichten und Traktate, die man dort lesen konnte, haben ihre bisherige Leserschaft zweifellos vor den Kopf gestoßen; sie lernten eine parteiliche, politisch engagierte Lina Loos kennen, die darüber hinaus auch zum ersten Mal in ihrem Leben eine öffentliche Funktion annahm – sie wurde Vizepräsidentin des »Bundes demokratischer Frauen«, gehörte dem »Österreichischen Friedensrat« an und bekannte öffentlich, erst jetzt die ihr gemäße Aufgabe gefunden zu haben, die sie ein Leben lang gesucht hatte.
2. bis 6. Juni 1950: Lina Loos stirbt einen langen und qualvollen Tod im Wiener Allgemeinen Krankenhaus, in das sie von ihrem Hausarzt eingewiesen wurde – gegen ihren Willen, da Leopoldine Rüther sie zu Hause aufopfernd pflegte. In einem Augenzeugenbericht Frau Rüthers heißt es: »Sie starb an der Finsterer-Klinik und ich wurde als Nächststehende unter ihren Freunden Zeugin skandalöser Vorgänge. Unter großen Schwierigkeiten gelang es mir, die Erlaubnis, in der Sterbenacht bei der Kranken bleiben zu dürfen, zu erwirken. Bei vollem Bewußtsein mußte Lina Loos drei Tage lang die ununterbrochenen Hinweise auf ihr baldiges Ende mitanhören. Sogar im Beisein von uns Freunden geschah dies.
Daß der Geistliche bei ihr war, die letzte Ölung gab, ist beinahe selbstverständlich – obzwar gebeten wurde, es zu unterlassen, da der hoffnungslose Zustand verheimlicht werden sollte. In den letzten Stunden umgab die Sterbende eine wohltätige Agonie – jedoch nicht Bewußtlosigkeit. Durch eine Herzinjektion wurde dieser Zustand unterbrochen, wodurch die körperliche Qual unbeschreiblich gesteigert wurde.
Schmerzstillende Injektionen durften die Schwestern nicht verabreichen. Die Herzinjektion gab ihr eine der geistlichen Schwestern – ohne jeden Auftrag, nur mit der ungeheuerlichen Begründung: die Sterbende müsse tunlichst bei Bewußtsein vor Gott erscheinen!
Meine schwachen Abwehrversuche hatten zur Folge, daß ich die Sterbende verlassen mußte und mir – die ich selbst dem Zusammenbruch nahe war – angedroht wurde (alles im lauten keifenden Ton), man würde mich wegen Abhaltung religiöser Pflichtausübung zur Verantwortung ziehen!
Unter lauten Ausrufen mußte die Sterbende versuchen, ein Gebet zu sprechen – wozu sie nicht mehr imstande war – ich kann nicht schildern, welch herzzerreißenden Anblick diese Quälerei bot …«
So scheint ihr allererster Lebenswunsch doch noch in Erfüllung gegangen zu sein. Als die halbwüchsige Lina Loos in der Schule gefragt worden war, welchen Beruf sie sich wünsche, hatte sie ganz ernsthaft geantwortet: Märtyrerin!
Adolf Opel
»Lina Loos, die berühmte Wiener Diseuse, feiert in Berlin am Passagetheater neue Erfolge.«
Deutsche Illustrierte Zeitung, Berlin, 15. Oktober 1911
MEIN TESTAMENT
Wenn ich tot bin, hinterlasse ich Güter von unermeßlich großem Wert: Die Erde! Wälder und viele Wiesen! Den Frühling und den Winter im Gebirge! Das Meer! Die Sonne und die Gnade Gottes! All diese Reichtümer meines Lebens hinterlasse ich euch ungeschmälert!!
Lina Loos
FAMILIENGESCHICHTEN
Eine österreichische Familie
Es lebte einmal ein Bauer in Niederösterreich, im Ort Sieghartskirchen, der hatte als erster die gute Idee, so viel Kleesamen, als er nur bekommen konnte, zu kaufen und nach Amerika auszuführen; Kleesamen war damals dort ein sehr begehrter Handelsartikel. Infolgedessen wurde der Bauer ein reicher Großkaufmann und in weiterer Folge mein Großvater.
Bei uns Kindern war es ein beliebtes Spiel, die Mutter, die immer eine heimliche Liebe zu Sieghartskirchen behielt, zu fragen: »Mutter, wieviel Häuser hat Sieghartskirchen?« Und wenn sie, um uns eine Freude zu machen, sagte: »Mehr als hundert«, schrien wir im Chor: »Jö, die Mutter schneid’t auf«, denn wir fühlten uns, kaum geboren, bereits als überlegene Wiener Großstädter. Immer mußte sie uns Geschichten von Sieghartskirchen erzählen; wie sie selbst, noch ein Kind, im sechsundsechziger Jahre im Wald versteckt wurde, weil die bösen Preußen nahten. In einer großen »Kaleß« voll mit Lebensmitteln, in Begleitung eines Knechtes und einer Magd, wurden die Kinder in den undurchdringlichen Wäldern vor dem heranziehenden Feind versteckt. Bei der Schilderung von der Kuh, die hinten am Wagen angebunden war, und dem Hund, der mitlief und durch sein Bellen alle in große Gefahr brachte, glänzten bereits unsre Augen, und wir wünschten uns damals nichts sehnsüchtiger als einen Krieg. Wir sahen uns schon im Prater versteckt, wenn möglich im Wurstelprater. Der Weltkrieg hat mich begreiflicherweise dann später etwas enttäuscht.
Dann erzählte sie uns, wie im ersten Stock im »Blauen Zimmer« bei den Großeltern, die im Hause geblieben waren, der erste provisorische Friedensvertrag zwischen Preußen und Österreich geschlossen wurde. Es war wirklich so.
Bei den Worten »Blaues Zimmer« lief uns ein leichter Schauer über den Rücken, denn die Mutter sprach es immer so feierlich aus, daß Sieghartskirchen wieder stark in unsrer Achtung stieg.
Oder sie mußte erzählen, wie sie alle einmal bei Tisch saßen, die Großeltern und alle vierzehn Kinder, und wie der Großknecht hereinkam mit der aufregenden Mitteilung, daß das neue Pferd schlagend sei, und wie sie dann alle sechzehn um das Pferd herum standen und wie das Pferd sofort schlagend bewies, daß es schlagend sei und einen Bruder meiner Mutter auf den Bauch schlug. Und wie er, den Bauch reibend, geschrien hat: »Die ganze Familie steht herum, und gerade mich muß es treffen?«
Oder: Wie eines der Kinder einmal schwer krank wurde und die Großmutter noch in der Nacht anspannen ließ und einen Knecht mit dem Wagen nach Wien schickte mit dem Auftrag, einen Professor zu bringen, und wie der Professor, erfroren und übernächtig, ankam, ohne sich auszuziehen an das Bett trat, einen Blick auf das bewußtlose Kind warf und sagte: »Und deswegen lassen Sie mich in der Nacht aus Wien holen, ich sehe doch sofort, da ist nichts mehr zu machen.« Und wie die Großmutter sich zu dem Knecht umdrehte und sagte: »Hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst einen Professor holen? Und du Tepp hast da einen Wahrsager erwischt.« Und wie den Professor fast der Schlag getroffen hat vor der wilden Energie der Großmutter.
Das kranke Kind lebt übrigens heute noch als alter Onkel in bester Gesundheit.
Mein Großvater war nicht nur Bauer und Kaufmann, er war auch ein großer Kunstfreund, er fuhr in seinem Wagen von Sieghartskirchen zu jeder größeren Premiere nach Wien. Sein besonderer Liebling war Nestroy; selbstverständlich verlangte und erhielt jeder einzelne Käufer, der in den Laden kam, einen genauen Bericht.