Lina Loos

Das Buch ohne Titel


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mich weinend in die Arme meiner Mutter. Die Schwester sagte: »Nimm sie doch! Schau sie doch an! Nimm sie doch!« Aber ich weinte meiner Mutter ins Ohr: »Ich will ins Bett!« Als ich im Bette lag, hörte ich noch, wie meine Schwester sagte: »Sie ist gar kein richtiges Kind.« Sie war entsetzlich enttäuscht.

      In der Nacht, als alle schliefen, stand ich leise auf und holte mir die Puppe ins Bett.

      Nun war ich mehr als zufrieden – ich war glücklich. Als ich am nächsten Tage in den Hof kam, die Puppe am Arm, erregte ich große Bewunderung bei den Mädchen, aber die Buben sagten nur »Pfui Teixel« und liefen an die Donau.

      Die Braut allein zu Hause lassen, wollte ich nicht, zum Halten konnte ich sie niemand anvertrauen, so lief ich denn einige Tage noch so mit, als Ausgeschaltete, Überflüssige, und zog mich dann ganz in den Schuppen zurück. Die Katze hatte sich uns zugesellt, und wir drei waren nun ganz auf uns selbst angewiesen. Die Kinder hatten mich bald vergessen, mich, die am besten springen konnte, die im Wettlaufen drei Radiergummi und acht ausgeschriebene Schulhefte gewonnen hatte. »Sie werden schon kommen«, dachte ich anfangs, aber sie kamen nicht.

      Ich hielt aber wirklich wochenlang, monatelang in dem Winkel aus, ich, die gewohnt war, auf der Straße zu leben, im Freien, ich, die nie etwas vom Familienleben gehalten hatte.

      Welches Ansehen hatte ich bei den Gassenbuben genossen und wie weit war es jetzt mit mir gekommen! Sie wagten es, mir auf dem Schulwege nachzuschreien: »Puppengretl!« »Die Katzenmutter spielt sich mit Puppen!« Aber ich hielt aus, ich war glücklich, wenn auch nicht mehr ganz zufrieden.

      Und eines Tages nahm ich der Braut den Schleier und den Kranz ab, riß ihr das Kleid herunter, denn sie war ein für allemal als Braut angezogen und konnte nicht umgekleidet werden, und ließ die Sägespäne aus ihrem Bauche laufen, bis Arme und Beine schlaff wurden, dann warf ich den Balg in eine Ecke.

      »Wir wollen Räuber und Gendarmen spielen«, rief ich schon von weitem in den Hof hinein; ich fühlte, es mußte etwas Besonderes geboten werden. Es war kein alltägliches Spiel, da durfte man sich in allen Häusern der ganzen Straße verstekken, auf allen Böden, in allen Kellern.

      Ich war »Räuber«, und im Elferhaus wurde ich fast gefangen, hätte ich nicht den Mut gehabt, eine fremde Wohnungstür zu öffnen und einzutreten. Zum Glück waren so viele Leute gekommen, sich eine Tote dort noch einmal anzusehen, daß ich mich die längste Zeit aufhalten konnte, ohne bemerkt zu werden.

      Ich wurde nicht gefangen, ich hatte gesiegt. Stolz und mit mir selbst zufrieden kehrte ich zur Nachtmahlzeit zur Familie zurück.

      »Wo ist deine Puppe?« fragte die Schwester.

      »Ich brauche keine Puppe mehr«, sagte ich kalt.

      Meine Schwester warf meiner Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu. Es konnte doch jetzt kein Zweifel mehr darüber walten, daß dieses letzte Kind kein richtiges Kind geworden war.

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      Die zweite Geschichte war so arg, daß meine Mutter meiner Schwester lange Zeit nicht in die Augen sehen konnte, aus Scham, daß ich auch ihre Tochter sei.

      Meine Schwester besaß ein großes Osterlamm aus weißem glitzerndem Zucker. Der Boden, auf dem es stand, war grün bemalt, und es war kein Zweifel, daß dies Gras vorstellen sollte. Neben dem Lamm stand eine Fahne aus roter Seide. Dieses Lamm zu besitzen, war meine ganze Sehnsucht, und das war auch so ziemlich der einzige Wert, den es für meine Schwester hatte. Das Lamm hatte nämlich sonst Fehler, es war, um offen zu sein, sehr staubig, man könnte sogar »dreckig« sagen, und meine Schwester mußte zu Hause Staub abwischen (ein Nachteil der älteren Schwester).

      Sie erklärte also eines Tages so ganz nebenbei, sie hätte die Absicht, das Lamm zu verschenken. Genoß meine Aufregung und ihre Macht und verstand es wirklich, eine große Sache daraus zu machen. Sie verteilte an alle Kinder des Hauses Lose; Ziehung am Ostersonntagmorgen im Hof! Ich trug den kleinen Zettel immer bei mir und sprach tagelang nur mit dem lieben Gott, er solle an mein Los denken und mir helfen, und versprach, dafür brav zu sein.

      Bei der Ziehung war meine Schwester sehr feierlich und schüttelte den Topf mit den Losen endlos lange, alle Kinder umdrängten sie, nur ich stand abseits und sprach noch einmal ein ernstes Wort mit dem lieben Gott.

      Endlich zog meine Schwester den Zettel heraus und darauf stand Lina! Das war ich! Dann zerriß sie den Zettel ohne weitere Erklärung, sagte nur: »Das gilt nicht!« und schenkte mein Lamm dem kleinen Mädchen vom ersten Stock, das einen Lackhut aufhatte, wenn es regnete; das alles ging so schnell, und doch werde ich es mein Leben lang nicht vergessen.

      Was war geschehen? – Eine Ungerechtigkeit wurde begangen, ein Wort wurde gebrochen. Wurde aber deshalb ein Kinderherz verbittert? Wurde Grund gelegt für spätere böse Dinge des Lebens? Nein; nichts von alledem! Ich war tief davon überzeugt, daß der liebe Gott für mich war – er hatte es mir doch deutlich gezeigt. Nur meine Schwester war gegen mich und den lieben Gott, gegen uns beide; da konnte man eben nichts machen. Aber ich war so stolz auf diese Freundschaft, daß ich meiner Schwester einfach ins Gesicht lachte.

      Sie war sprachlos …

       Die Mutter und wir

      Die Mutter, auf dem Lande aufgewachsen, konnte die Prügel nicht mehr vergessen, die sie einmal von der Pfarrersköchin bekam, weil sie dem Herrn Pfarrer vertrauensselig beichtete, daß sie mitschuldig sei am jähen Verschwinden seiner großen gelben Kaiserbirnen.

      Seitdem war sie etwas mißtrauisch und besprach alles mit dem lieben Gott direkt, unter Umgehung aller Mittelspersonen.

      Nun verbreitete sich aber eines Tages in unserm Hause das Gerücht von fremden Missionären, die, von weit her kommend, in der Kirche unsres Bezirkes die Beichte hörten. Sie sollten so ganz anders sprechen, so gütig und weise, und bald wieder weiterziehen.

      Ich weiß nicht mehr, ob eine arme Frau, die neben uns, oder eine arme Frau, die ober uns wohnte, Mutter überzeugte, oder ob ihr nur die Tatsache so gefiel, daß die Missionäre von weit her kamen, um bald wieder fortzuziehen – kurz, sie beschloß, beichten zu gehen.

      Ausnahmsweise wurde die Beichte abends abgehört, und wir Kinder blieben zum erstenmal allein. Wir hatten nämlich noch eine so gute Mutter, die sich nie von uns trennte, alles mit uns besprach und mit unsrer Freundschaft vollkommen zufrieden war.

      Tagsüber hatten wir jedem Menschen, der es nur hören wollte, erzählt, daß unsre Mutter beichten gehe, und kamen uns sehr wichtig vor. Aber jetzt abends war es so still und dunkel, und wir bekamen Angst. Wir fühlten uns zwar verpflichtet, artig und brav zu sein; unter diesen beängstigenden Umständen aber waren wir geradezu gezwungen, Tiergarten zu spielen. Meine Schwester und mein Bruder wollten beide der Löwe sein. »Sie« wollte natürlich der König der Tiere sein, und es gelang ihr auch, meinen Bruder zu überzeugen, daß der Elefant größer wäre und daß er trompete. Bei mir gab es keine Wahl; ich konnte nur bellen.

      Ich glaube nicht, daß diese Tierlaute, die wir jetzt ausstießen, sich wesentlich unterschieden haben, aber laut waren wir alle drei, sehr laut, fast markerschütternd.

      Auf einmal klopfte es an die Wand, wir wurden still, da klopfte es wieder, und eine traurige Stimme sagte: »Seid doch ruhig; mein Kind, die Annerl, ist so krank!«

      Viele Kinder wurden geboren, viele Kinder starben in diesem Armeleutehaus, es war nichts Besonderes für uns – aber jetzt durfte niemand sterben, wir waren allein, ohne Mutter. Wenn sie nicht wiederkäme? Oh, diese Angst!

      Aber sie kam. Sie kam fröhlich und ruhig, setzte sich zu uns und erzählte.

      »Also paßt auf, ich kniete nieder, machte das Kreuz und sagte: Hochwürdiger Herr, ich habe sicher viele Sünden begangen, aber ich weiß nicht mehr alle. Vielleicht fragen Sie mich, Hochwürden!«

      »Wie lange waren Sie schon nicht beichten?« fragte er.

      »Vierzehn Jahre, Hochwürden.«

      »Ja,