Lina Loos

Das Buch ohne Titel


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selbst – zu diesem Zeitpunkt bereits chronisch krank und in sich stetig verschlimmernder finanzieller Misere lebend – wäre eine Emigration wohl nicht mehr möglich gewesen; und so blieb ihr nichts übrig, als im »Reich des Antichrist« (wie es Egon Friedell wenige Jahre zuvor in einem Brief aus Nazi-Deutschland an Lina Loos genannt hatte) – das jetzt auf Österreich übergegriffen hatte und in dem »jede Regung von Noblesse, Frömmigkeit, Bildung, Vernunft von einer Rotte verkommener Hausknechte auf die gehässigste und ordinärste Weise verfolgt …« wurde – in größter Zurückgezogenheit zu vegetieren zu versuchen.

      Sie sei »tapfer und kampfesmutig wie immer«, schrieb noch im September 1938 der befreundete Schriftsteller und Kritiker Oskar Maurus Fontana an den besorgten Csokor in seinem polnischen Exil. Wie kampfesmutig die nicht mehr junge, von der Todeskrankheit schon gezeichnete Lina Loos in jenen Schreckensjahren tatsächlich war; wie sehr sie die Maxime »Werde, der du bist!« in die Tat umzusetzen vermochte – das erfuhr man erst nach dem Krieg: aus Augenzeugenberichten, aus den Mitteilungen von Nachbarn, die überlebt hatten und zu reden wagten. Eine andere Lina Loos ersteht vor uns, die ihre Larven und Verpuppungen abgeworfen hat: nicht mehr die Freundin bedeutender Männer, die aparte Diseuse mit den hechtgrauen Augen aus dem »Cabaret Fledermaus«; nicht mehr die kaum motivierte Darstellerin von Nebenrollen am Deutschen Volkstheater oder die Schreiberin gefälliger und humorvoller Feuilletons in der Wochenausgabe des »Neuen Wiener Tagblattes«. Die großen Augenblicke in ihrem Leben, »Sternstunden«, wenn man sie so nennen will – in denen sie beweisen konnte, wer sie wirklich ist, die kamen erst jetzt.

      9. November 1938: »Kristallnacht« im gesamten Deutschen Reich, dem jetzt auch die »Ostmark« angehört: auch in Wien werden Juden verhaftet, verhöhnt und gedemütigt, jüdische Geschäfte geplündert, Brandanschläge auf die Synagogen verübt, von denen alle – mit Ausnahme des Stadttempels in der Seitenstettengasse – restlos zerstört werden. Lina Loos begibt sich an die Tatorte der Ausschreitungen, folgt dem Tross der Brandstifter und Plünderer und spricht, unüberhörbar, an jedem Schauplatz immer wieder die Worte: »Ich bin Zeuge!« – »Ich bin Zeuge!« Wie durch ein Wunder entkommt sie unbehelligt.

      13. April 1945: die Schlacht um Wien ist nach zehntägigen Straßenkämpfen und mehr als 50 Luftangriffen auf die Stadt beendet und die Rote Armee zieht ein. Lina Loos ist in Wien geblieben, sie hat sich nicht »evakuieren« lassen, obwohl sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Auch Sievering, wo sie schon seit fast vier Jahrzehnten wohnt, liegt in der Kampfzone. Die in der Stadt verbliebene Bevölkerung erwartet sich von den einrückenden Russen das Schlimmste … Die 63-jährige Lina Loos wagt sich als einzige auf die Straße, sie kommt den Soldaten der Roten Armee mit Salz und Brot entgegen – und die siegreichen Russen akzeptieren wie selbstverständlich ihre Geste des Angebots von Frieden und Freundschaft. Sie sollen sogar ein erbeutetes Schwein geschlachtet und es den hungernden Bewohnern von Sievering geschenkt haben.

      Nichts und doch alles schien die am 9. Oktober 1882 in Wien geborene Karoline Obertimpfler zu prädestinieren, ein Leben in geradezu existenziellem Widerspruch zu ihrem Umfeld führen zu müssen. Beide Eltern waren bäuerlicher Abstammung, ihre Spuren lassen sich nach Tirol und Niederösterreich zurückverfolgen, in der väterlichen Linie zu einem Ahnherrn namens Peter Mayr von der Lahn, der mit Andreas Hofer befreundet war; in der Familie hieß es sogar, die Obertimpflers seien durch die Familie Speckbacher mit Andreas Hofer selbst verwandt. Lina Loos hat es kaum der Mühe wert gefunden, diese Hinweise verifizieren zu lassen.

      Der Vater Karl Obertimpfler war Cafétier und respektables Mitglied der Wiener Kaffeesiedergenossenschaft; er hatte seine Laufbahn als Delikatessenhändler begonnen, wurde dann Geschäftsführer im »Café de l’Europe« am Stephansplatz und konnte schließlich 1897 das »Grand Café Casa Piccola« in der Mariahilferstraße 1b erwerben. Vor allem dank der gegenüber seinen Gästen stets liebenswürdigen und originellen Erscheinung Obertimpflers übertraf der Erfolg des Caféhauses alle Erwartungen und bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges konnte die Familie ein beachtliches Vermögen anhäufen. Obertimpfler war ein Duzfreund Peter Altenbergs, der mit seinem Kreis – zu dem neben Adolf Loos, Oskar Kokoschka, Otto Erich Hartleben noch zahlreiche Wiener Schriftsteller, Publizisten und Künstler stießen – das »Casa Piccola« gerne frequentierte. Doch hinter den Kulissen sah es ganz anders aus: der alte Obertimpfler, wie er von den Stammkunden jovial genannt wurde, war seiner Familie – und vor allem gegenüber der eigenen Frau – ein egoistischer, eifersüchtiger und rechthaberischer Tyrann. Sich stets über den Mangel an Anteilnahme von Frau und Kindern beklagend, selber aber einsame Entscheidungen treffend, die schließlich zum geschäftlichen Ruin der Obertimpflers führen sollten, hat er zweifelsohne seinen Teil dazu beigetragen, dass Lina danach trachtete, diesem Strindberg-Milieu zu entkommen und – welche Möglichkeiten gab es sonst für ein Mädchen ihrer bürgerlichen Herkunft? – sich rasch in eine eigene Ehe zu flüchten …

      Die Ehe der Eltern artete zusehends zu einer tragischen Groteske aus – immer häufiger hüllte sich Karl Obertimpfler zu Hause in den Mantel des Schweigens, um seine Frau zu bestrafen – und schließlich sprach er überhaupt nicht mehr mit ihr. Das Ehepaar verkehrte nur mehr brieflich miteinander, wenn es unumgänglich war – obwohl es nebeneinander in der »Casa Piccola« saß und den Ablauf des Geschäfts überwachte.

      Auch Linas Mutter, Karoline, geborene Ockermüller, war eine begeisterte Kaffeesiederin, die in der Führung des Cafés – neben der Sorge um ihre Kinder – ihren Lebensinhalt sah. Ihrer Mutter, einer Frau mit angeborener Herzensbildung und verblüffendem Hausverstand, hat Lina Loos in ihren »Familiengeschichten« ein berührendes Denkmal der Liebe gesetzt. Immer wieder hat sie sich im Laufe ihres Lebens bei der einfachen, von keiner Schulbildung verformten Frau Ratschläge geholt, in Geld-, aber auch in Eheangelegenheiten.

      Im Mai 1918 musste Karl Obertimpfler das »Grand Café Casa Piccola« verkaufen; er hatte seine gesamten Ersparnisse in Kriegsanleihen investiert und alles verloren. Der Krieg, sein Alter und wohl auch seine sich verschlimmernde Trunksucht schlossen dieses Kapitel ab. Der Verlust des Kaffeehauses ließ das letzte Band reißen, das das Ehepaar noch verbunden hatte. Im Dezember 1922 starb Karoline Obertimpfler mit 72 Jahren. Als ihr Mann spätnachts und reichlich angetrunken aus dem Wirtshaus nach Hause kam und seine Frau tot vorfand, soll er sich mit der Bemerkung »Mein Gott, wird das morgen ein Schmerz sein!« in aller Ruhe zu Bett gelegt haben.

      Im Februar 1927 folgte er ihr nach. Viele Zeitungen widmeten dem beliebten Cafétier und Wiener Original launige Nachrufe.

      Linas um acht Jahre älterer Bruder Karl – von den Eltern zunächst zum Pfarrer bestimmt, dann wegen sich wiederholender Frauengeschichten zu einem Schlosser in die Lehre gegeben – wurde unter dem Namen Karl Forest ein in Berlin und Wien bekannter Schauspieler; 1917 wurde er an das Deutsche Volkstheater in Wien engagiert, später an die Scala und an das Theater in der Josefstadt. Sein Alkohlkonsum, seine Eheaffären, die des Öfteren zu Skandalen und Nervenzusammenbrüchen führten, die er in Sanatorien ausheilen musste, standen einer kontinuierlichen Karriere im Wege – die 1938 mit dem Anschluss Österreichs ohnehin ein Ende fand. 1944 ist er dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen.

      Auch über ihre ältere Schwester Helene hat Lina Loos geschrieben und das nostalgische Bild einer bei allen Wechselfällen des Lebens idyllischen Kindheit entstehen lassen, das auch einer plötzlichen Verarmung der Familie – die 1889 den Umzug in eine Parterrewohnung am Donaukanal mit sich brachte – positive Aspekte abzugewinnen vermag. Doch die Idylle innerhalb der Familie scheint in Wahrheit auch schon damals brüchig gewesen zu sein: Helene Obertimpfler rückt 1895, mit zwanzig Jahren, von zu Hause aus – zusammen mit einem ihren Eltern nicht genehmen Galan, der in der darauffolgenden Korrespondenz mit der verlorenen Tochter stets nur »Dülberg« genannt wird. Auch Jahre danach, als Helene ihren Entführer längst geheiratet hat, wirft sie in ihren Briefen den Eltern mangelnde Liebe und Zuwendung vor – ein Vorwurf, der die Mutter tief bekümmert, den Vater aber offenbar kalt gelassen hat.

      Helene Dülberg gelang es, als Schriftstellerin anerkannt und in Künstlerkreisen akzeptiert zu werden; ihr Mann versuchte sich in dubiosen Verlagsgeschäften – und beide scheinen von finanziellen Zuwendungen seitens der Obertimpflers abhängig gewesen zu sein. Ärger noch aber war es wohl, dass auch die Ehe der Dülbergs in den Folgejahren nicht