Lina Loos

Das Buch ohne Titel


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»Schwarzen Adler« in Rudolfsheim. Als sich die Großeltern im Alter vom Geschäftsleben zurückzogen, kauften sie der Einfachheit halber den ganzen Adlerhof, und der ist bis heute im Besitz unsrer Familie geblieben. Betreffs dieses gehöre ich leider nicht mehr zur Familie.

      Auch eine aufregende Kriminalgeschichte hat sich einmal in Sieghartskirchen ereignet.

      Jeden Sonntag kamen die Bauern von weit und breit in ihren Fuhrwerken angefahren, um nach dem Kirchenbesuch bei den Großeltern einzukaufen. Am nächsten Tag saß dann die ganze Familie um einen großen Tisch, Berge von vermudelten, fetten Guldenzetteln mußten glattgestrichen und gebündelt werden. Eines Tages wurde nun entdeckt, daß Geld fehlte; man stand vor einem Rätsel. Entwendung kam nicht in Frage, Geschäftsrückgang (gute alte Zeit!) kam nicht in Frage, und es fehlte aus der Lade mit den Guldenzetteln immer wieder Geld, trotz Zählen und Aufpassen.

      Die Großmutter ließ nicht anspannen, sie schickte den Knecht nicht um einen Detektiv nach Wien, sie beschloß, die Sache selbst zu ergründen.

      Eine Zeitlang schien es, als ob meine Großmutter kein Sherlock Holmes sei, aber das blaue Auge des Gesetzes siegte doch. Als sie einmal die Geldlade ganz herauszog und sie einer fachmännischen genauen Untersuchung unterwarf, entdeckte sie an der Rückwand der Lade eine Lücke und die ersten Spuren. Es waren zwar keine Fingerabdrücke, aber doch Spuren, wie sie Verbrecher gern an dem Tatort zurücklassen.

      Als sie der Sache nachging, fand sie dann im Kasten die ganze Diebsbande. Eine Mäusemutter hatte durch die Lücke die fetten und wohlriechenden Guldenzettel gezogen und ihren Kindern ein reizendes, weiches, warmes Nest aus lauter zerbissenen und zerkauten Guldenzetteln gebaut.

      Das blaue kostbare Nest wurde lange in der Familie aufbewahrt, und niemand konnte es sehen, ohne daß ihm die Haare zu Berge standen. Um die Mäusefamilie, die doch sicher die reichste Mäusefamilie war, die je gelebt hatte und die plötzlich verarmt und obdachlos geworden war, kümmerte sich niemand – so sind die Menschen, so waren sie, und so sind sie noch heute.

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      Als meine Mutter heiratete (1873), bekam sie von ihren Eltern das größte Delikatessengeschäft von Wien (Stalzer am Lichtensteg) zum Hochzeitsgeschenk. Meine Eltern verkauften es später an einen Herrn, dem es heute noch gehört.

      Wir Kinder dachten natürlich, das Leben würde immer so weitergehen: Mandeln, Rosinen, Datteln, wohin das Auge blickt, in Hülle und Fülle. Märchenerzählungen vom Knusperhäuschen oder vom Schlaraffenland machten daher gar keinen Eindruck auf uns.

      Unsre Sehnsucht war es, mit bloßen Füßen frei auf der Straße herumlaufen zu dürfen, in Lacken so zu patschen, daß der Schlamm durch die Zehen glitscht. Wir sahen voll Neid durch die Auslagen auf die glücklichen Kinder der Straße, und die armen Kinder sahen voll Neid in unsre Auslagen.

      Aber so ist das Leben, eine ständig wechselnde Sehnsucht.

      Später stand ich vor den Auslagen und schaute voll Neid hinein, und die Geschäftsleute behaupteten, daß ihnen bereits der Schlamm aus den Schuhen glitscht.

      Meine Mutter übertrug in späteren Jahren ihre heimliche Liebe für Sieghartskirchen auf den Kahlenberg.

      Wenn es irgendwie möglich war, fuhr sie Samstag abend hinauf, blieb im Hotel über Nacht und ging den nächsten Tag, den Morgen recht genießend, nach Nußdorf hinunter.

      Bis in ihr hohes Alter, immer noch sehr gut zu Fuß, frönte sie dieser Leidenschaft.

      Da geschah es an einem wunderschönen Sonntagsmorgen, daß meine Mutter, besonders unternehmungslustig, beschloß, die steile Wiese direkt hinunterzugehen.

      Das hätte sie nicht tun sollen!

      Ausflügler hatten sich bereits mit Kind und Kegel auf der Wiese häuslich niedergelassen. Sie saßen wie Blumenbüschel, die sich friedvoll sonnen, in Gruppen beisammen, fernab dem Großstadtgetriebe mit seinen lästigen Sensationen.

      Da erschien meine Mutter am Horizont. Wie es angefangen hat, weiß man nicht, aber kaum hatte meine Mutter die Wiese betreten, als sie die Herrschaft über ihre Beine verlor und ins Laufen kam … Den Ausflüglern bot sich plötzlich ein seltsam sonderbares Bild: Eine ältere Dame lief mit zunehmender Geschwindigkeit, in der einen Hand einen Schirm und in der andern eine Handtasche schwenkend, den Hut schief auf dem Kopf, die Wiese hinunter. In kühnen Sätzen, jedes Hindernis nehmend, sprang sie über ausgebreitete Tischtücher, über Teller und Gläser. Mütter rissen im letzten Moment noch die Kinderwagen an sich. Ein junger Mann versuchte, meine Mutter einzuholen und zu fangen; aber sie hatte bereits ein solches Tempo erreicht, daß sein Unternehmen erfolglos blieb. Sie sauste, hinter ihr der junge Mann und ein bellender Hund, der sich begeistert an der wilden Jagd beteiligte, talabwärts. Meine Mutter hatte, wie sie oft selbst tränenlachend erzählte, nur einen Wunsch – doch endlich einmal schon in einem Graben zu liegen! Und da lag sie auch schon! Der junge Mann hob sie auf, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß nichts passiert war, gratulierte er meiner Mutter zu dieser zwar unfreiwilligen, aber doch fabelhaften sportlichen Leistung.

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      Das Ende dieser Geschichte einer österreichischen Familie möchte ich nicht schreiben –, es würde zu österreichisch ausfallen. Es gab einige jähe Abstürze – aber das Lachen ist uns allen geblieben, und das sind doch die einzigen, immer gleich wertvoll, immer gleich bekömmlich bleibenden Rosinen des Lebens.

       Meine Schwester und ich

      Wir verarmten und zogen in eine Parterrewohnung am Donaukanal. Ein Abstieg für die Erwachsenen –, da ich aber ein Kind von sieben Jahren war, wohnten wir natürlich herrlich in einem Hause mit vielen Kindern, nahe der Donau, und vom Zimmer aus konnte man direkt in den Hof gehen.

      Im Hof lagen Bretter vom Tischler, ein Schuppen war da, eine Katze und in einer Ecke ein Grab mit einem Kreuz. Hier ruhte in einer Zündholzschachtel eine grüne Heuschrecke. Sie hatte sich hierher verirrt, war verschieden und kam durch mich ganz unerwarteterweise zu einem christlichen Begräbnis.

      Im Winter erlaubte mir die Hausmeisterin, im Hofe Schnee zu kehren. Der Lehrbub vom Tischler lieh mir einen von seinen Schlittschuhen – mit dem zweiten lief er. Ich habe später nie richtig Schlittschuh laufen gelernt, das heißt: mit dem rechten Fuß lief ich wundervoll, aber der linke hat es nicht mehr erfaßt, er war es von Jugend auf nicht gewöhnt.

      Ich fühlte mich also gar nicht arm, und die Kinder, die ohne Hof, Straße und Donau aufwachsen, tun mir heute noch leid. Für Kinder kann doch Reichtum nur etwas Hemmendes und Lästiges sein.

      Ich wäre also soweit ganz zufrieden gewesen, aber leider hatte ich eine Schwester, die um sieben Jahre älter war. Ob reich, ob arm – eine ältere Schwester ist schrecklich. Sie fühlt sich erwachsen, übernimmt Muttersorgen, weiß alles besser, ist unerbittlich, und wenn sie nicht doch noch von der Mutter ab und zu eine »fangen« würde, wäre ihre Würde schlechthin unerträglich.

      Sie sagt: »Was wünschest du dir zu Weihnachten?« »Eine Puppe«, sage ich. »Eine Puppe?« sagt die Schwester verächtlich und höhnisch. »Gott, wie kindisch!« Ich sage: »Keine so gewöhnliche Puppe! Sie muß als Braut angezogen sein, ein Atlaskleid haben, einen Schleier, einen Kranz und blonde Haare, die man wirklich kämmen kann.«

      »Ja«, sagt die Schwester überlegend, »vielleicht könntest du eine solche bekommen, das heißt, wenn ich mit dem Christkindl rede. Aber von morgen an mußt d u in der Früh die Milch und die Semmeln holen.« (Sonst ein Nachteil der älteren Schwester.)

      Auf der Straße war es kalt, finster und unheimlich. Nach acht Tagen bat ich meine Schwester, lieber an das Christkindl zu schreiben. Aber sie sagte, sie halte von Briefen gar nichts, das müsse sie persönlich besprechen, und solche Protektion wäre das Sicherste. So holte ich weiter Milch und Semmeln, und die Schwester lag bis Viertel acht im Bett.

      Dann kam der Weihnachtsabend.

      Und