Lina Loos

Das Buch ohne Titel


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Selbstmordes, Mann und Wohnung verließ und von da an als verschollen galt; ob sie den Freitod in der Donau gesucht oder ob sie nur Spuren gelegt hatte, die auf einen solchen verweisen sollten, bleibt bis heute ungeklärt. Suchaufrufe erbrachten kein Lebenszeichen der Verschwundenen, eine Leiche ist nie gefunden worden. Zeitungen berichteten, dass einige Tage nach ihrem angeblichen Selbstmord eine Frau gesehen worden sei, auf die die Personenbeschreibung Helene Dülbergs gepasst habe.

      Es war auch Helene Dülberg, die an einem Frühlingstag des Jahres 1902 ihre um sieben Jahre jüngere Schwester zum Peter-Altenberg-Stammtisch im »Löwenbräu« hinter dem Burgtheater mitnahm. Dort kam es zu der schicksalhaften Begegnung mit dem Architekten Adolf Loos – und zu seinem spontanen Heiratsantrag noch am selben Abend, den sie, zur Überraschung aller Anwesenden, ebenso spontan sofort akzeptierte. Dass eine von ihr aus Ungeschicklichkeit zerbrochene seltene Zigarettendose aus russischer Birke, die Loos gehörte, zu der ungewöhnlichen Werbung geführt hatte, ist eine Anekdote, die sie selbst berichtet und die man bis heute immer wieder zitiert, wenn von Lina Loos die Rede ist; untrennbar gehört sie zur Legende, die sich um das Paar Lina und Adolf Loos und seine Zeit gebildet hat.

      Im Hinblick auf die von Lina Loos immer wieder bewiesene fanatische Wahrheitsliebe ist sogar anzunehmen, dass sich das alles genauso abgespielt hat, wie es von ihr geschildert wurde.

      Möglicherweise hatte Lina Obertimpfler nur auf eine Chance gewartet, dem Beispiel der älteren Schwester folgen und jetzt ihrerseits von zu Hause ausrücken zu können. Zweiffellos war sie aber auch von dem um zwölf Jahre älteren Loos beeindruckt, dessen aufsehenerregende Artikelserie in der »Neuen Freien Presse« anlässlich der Kaiser-Jubiläums-Ausstellung 1898 sie gelesen und bewundert hatte. Um jene Zeit absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Konservatorium der Stadt Wien – gegen den Willen der Eltern und möglicherweise ermutigt durch ihren Bruder Karl, der sich bereits in Deutschland im Engagement befand.

      Spontane Heiratsanträge hat sie mehrere in ihrem Leben erhalten, unter anderem auch von Franz Lehár, der damals noch Militärkapellmeister war; akzeptiert hat sie allerdings keine mehr.

      Am 21. Juli 1902 heirateten Lina Obertimpfler und Adolf Loos in Eisgrub, Mähren, totz der Bedenken ihrer Eltern, die – wie sich bald herausstellte, zu Recht – bezweifelten, dass Loos seine junge Frau standesgemäß erhalten können würde: er war bekannt dafür, gerne auf großem Fuß zu leben und mit Geld geradezu verschwenderisch umzugehen – lukrative Bauaufträge dagegen waren für Loos in jenen Jahren noch selten. Die Hochzeitsreise geht nach Dalmatien und Griechenland bis in die Türkei und dauert fünf Wochen. Nach seiner Rückkehr wohnt das Ehepaar Loos zunächst mehrere Monate lang im Hotel und sucht eine passende Wohnung. Mit finanzieller Unterstützung der Obertimpflers kann schließlich eine Wohnung im 5. Stock des Hauses Giselastraße 3 (heute: Bösendorferstraße, eine Gedenktafel für Adolf Loos ist dort angebracht) bezogen werden. Im Juli 1903 ist sie dann – ganz nach den Wünschen Adolf Loos’ und mit den von ihm angestrebten Raumwirkungen – fertiggestellt. Zugleich veröffentlicht Loos voll Stolz in der von Peter Altenberg herausgegebenen Zeitschrift »Kunst« ein Foto des Glanzstückes dieser Wohnung: »Das Schlafzimmer für meine Frau«. Das geräumige Bett mit weißen Fellen bedeckt, der Raum durch weißen Battist verhüllt, ist dieses Schlafzimmer geradezu eine Herausforderung an eine Epoche, die Intimes gerne in dunkle, unauffällige Kammern verbannt.

      Das frühe Scheitern dieser Ehe scheint vorprogrammiert gewesen zu sein: Loos hat in seiner schönen jungen Frau offenbar vor allem das edle Menschen-Material gesehen, das er sich nach seinen Wünschen und Ansprüchen zurechtbiegen wollte – nicht aber die eigenständige, auf ihre individuellen Rechte pochende Persönlichkeit. Seine Briefe an sie aus jener Zeit sind, trotz des scherzhaften Untertons, verräterisch: »Mein Mädili! … Mädili soll ihre Kraft kennen. Aber nicht zur Geltung bringen. Das erste könnte dich und mich glücklich machen, das zweite dich vielleicht glücklich, mich aber sicher unglücklich machen – denn dann würde mir Mädi sicher bald einen Tritt geben. Nein, mir wäre es schon lieber, wenn Mädi keine große Frau würde …« (9. August 1904).

      In ihrem Theaterstück Wie man wird, was man ist – das sie zeitlebens unter Verschluss gehalten hat; es wurde erst 1994 veröffentlicht und zu den Wiener Festwochen 1996 im »Loos-Haus« am Michaelerplatz uraufgeführt – hat Lina Loos den unglücklichen Verlauf ihrer Ehe und die Gründe dafür kaum verschlüsselt dargestellt: sie selbst und Adolf Loos sind die Protagonisten, die Nebenfiguren lassen sich als Friedell, Csokor und die exzentrische Laura Beer – die in Lina Loos’ Ehekrise eine zentrale Rolle gespielt hat – deuten. Das Stück ist Anfang der Zwanzigerjahre entstanden, als sich Lina Loos der Sprechbühne zuzuwenden begann und auch als Theaterautorin reüssieren wollte.

      Auch ihre anderen Stücke und Stückentwürfe aus jener Zeit haben problematische Mann/Frau-Beziehungen zum Thema: Revolution, Im Pavillon, Die Geburt, Bürger von Anno Dazumal und Pomme de Terre/Der Erdapfel, dessen Hauptrollen sie sich selbst und ihrem Bruder Karl Forest zugedacht hatte.

      Im Jahre 1904 ist das Ende der Ehe bereits in Sicht – und wir lernen eine neue Facette der Lina Loos kennen: die »femme fatale« – in buchstäblichem Sinne des Wortes. Opfer ist der 19-jährige Heinz Lang, Sohn der Frauenrechtlerin Marie Lang, für deren »Wiener Frauenclub« Adolf Loos vier Jahre zuvor die Inneneinrichtung gestaltet hatte. Heinz Lang, der sich am Akademischen Gymnasium auf seine Matura vorbereitete und später Medizin studieren wollte, gehörte bald zum engsten Kreis der Freundesrunde um Loos und Altenberg. Zunächst scheint Loos – dem bürgerliche Vorurteile stets ein Dorn im Auge waren – das sich vertiefende Verhältnis der beiden zu tolerieren; er gestattet es sogar, dass Lina ihrem jungen Verehrer für künstlerische Nacktfotos Modell steht. Doch dann muss er entdecken, dass seine Frau ihn bereits seit einem ganzen Jahr mit Heinz Lang betrügt – und das noch dazu in dem von ihm einem interessierten Publikum so einladend präsentierten »Schlafzimmer für seine Frau« …

      Vor allem letzteres dürfte Loos seiner ungetreuen Frau nie mehr verziehen haben. Er schickt sie allein in das Dorf Kals in Tirol, dort, in Quarantäne, soll sie über ihre Lage nachdenken und zur Besinnung kommen. Loos hat sich inzwischen dazu durchgerungen, Lina freizugeben, falls sie sich gegen ihn und für den Jüngeren entscheiden sollte; er teilt seine Absicht Heinz Lang mit, der in Kidderminster bei Birmingham seinen Sommerurlaub bei einer befreundeten Familie verbringt. Lang scheint daraufhin fest damit gerechnet zu haben, dass Lina zu ihm nach England kommen würde – doch diese war offenbar zu dem Entschluss gekommen, ihren eigenen Weg zu gehen und sich von beiden Männern zu trennen. Sie begleitete zwar Loos an den Genfersee, wo ein Auftrag – die »Villa Karma« in Clarens – auf ihn wartete, begab sich aber in die Obhut der befreundeten Laura Beer, der Frau von Loos’ Bauherrn, und trat anschließend – wieder mit finanzieller Hilfe ihrer Mutter, die ihre Unabhängigkeitsbestrebungen von ganzem Herzen unterstützte – einen Kuraufenthalt in Vevey an. Von dort schickte sie einen rekommandierten Absagebrief samt Foto an Heinz Lang; beides erreichte ihn am 27. August 1904. Eine Minute nach Erhalt dieses Briefes – so teilte der mit der Familie Lang befreundete Schriftsteller Stefan Grossmann kurz darauf Lina Loos lakonisch mit – habe sich Heinz Lang in einer Jagdhütte in Falling Sands mit einem Armeerevolver erschossen. Man fand bei ihm Fotos von Lina Loos und einen begonnenen, aber nicht abgeschickten Brief an sie.

      Nicht nur die Zeitungen berichteten über die skandalträchtige Affäre, auch in den Wiener Salons wurden der Selbstmord und seine Begleitumstände ausgiebig erörtert. Arthur Schnitzler hat in seinem Fragment gebliebenen Stück Das Wort diesen Fall und die darin verwickelten Personen verfremdet nachgezeichnet; erst 1966 wurde es im »Theater in der Josefstadt« uraufgeführt und 2002 sogar – eine zweifelhafte Hommage – unter Auflösung der von Schnitzler gewünschten Verfremdungen als Affäre Lina Loos in Reichenau gespielt.

      Im Jahre 1904 kam es auch zu den ersten Zeitungsveröffentlichungen von Lina Loos. Sie debütierte am 14. August im »Neuen Wiener Tagblatt« mit Vandalen (Brief einer Dame); es war tatsächlich ein Brief, den sie an ihren Mann geschrieben hatte: Loos war von dessen Inhalt so angetan, dass er ihn der Zeitung zur Veröffentlichung schickte. Ob das mit ihrem Einverständnis geschehen war, sei dahingestellt – jedenfalls hat Adolf Loos seine Frau in eine schriftstellerische Laufbahn geradezu hineingestoßen. Im selben Jahr publizierte sie auch Aphorismen, sichtlich