Marlow nickte ihr zu und ging ebenfalls weiter. Er schien nur zu schlendern, hielt aber trotzdem mit ihrem forschen Tempo Schritt.
„Dort wartet er doch auf mich, nicht wahr?“ Miranda hob das Kinn noch ein wenig höher. Er war zwar höflich, hilfsbereit und wahrte die nötige Distanz, aber trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er sich hinter seiner perfekten unterwürfigen Miene insgeheim über sie lustig machte.
„Ja, Mylady. Tisch.“
„Tisch?“
„Tisch!“
Miranda schaute den Mann mit zusammengekniffenen Augen an. Wovon sprach er?
Marlows Hand schoss hervor, packte sie am Arm und zog sie in die Mitte des Korridors. Seine bloße Hand schien sich in ihren Oberarm zu brennen. Sie blieb abrupt stehen und schaute ihn finster an.
Mit einer knappen Handbewegung richtete er ihre Aufmerksamkeit auf den großen, schmalen Tisch mit dem kunstvollen Blumenarrangement, das fast bis zur Decke reichte. Wenn er sie nicht zur Seite gezogen hätte, wäre sie direkt gegen diesen Tisch gelaufen.
„Tisch.“ Er trat um sie herum und setzte seinen Weg fort, während Miranda das vermaledeite Möbelstück mit großer Verärgerung betrachtete.
Miranda hielt ihr Gesicht in die Sonne und genoss die Wärme und den strahlenden Sonnenschein. Griffith hatte vorgeschlagen, gemütlich auszureiten und ein Picknick zu machen. Eine brillante Idee, obwohl sie immer noch nicht verstand, warum er sie eigens in sein Arbeitszimmer bestellt hatte, um ihr diesen Vorschlag zu unterbreiten.
Dass ihr Bruder sie zu sich bestellte, war ungewöhnlich. Der Vorschlag zu einem gemeinsamen Ausritt war noch ungewöhnlicher, aber sie verbrachte so wenig Zeit mit Griffith, der seit vielen Jahren eine Vaterfigur für sie war, dass sie sich über diese Gelegenheit nicht beklagen würde.
Georgina sah das völlig anders. „Sosehr ich euch beide auch liebe, und ihr wisst, dass ich euch wirklich gernhabe“, hatte sie gesagt, als sie sie eingeladen hatten, sie zu begleiten, „ihr könnt mich nicht überreden, im Freien und ohne Tisch zu essen. Da draußen gibt es Insekten!“
Miranda lächelte und schaute Griffith an, der es sich in seinem Sattel bequem machte. „Es wäre schön, wenn Trent hier wäre und mit uns ausreiten könnte.“
Mit einem zustimmenden Murmeln trabte Griffith los.
Wahrscheinlich vermisste er ihren Bruder genauso sehr wie sie. Trent war jedoch in London, wo er seine Freiheit auskostete, in seinen Klub ging, sich mit Freunden traf und sein Leben genoss, wie es junge Adelige, die keinerlei Verpflichtungen hatten, gewöhnlich taten.
Das war ein weiteres deutliches Indiz dafür, dass sie für die Suche nach einem geeigneten Ehemann schon alt war. Trent war nicht einmal ein Jahr älter als sie und er hatte sein Elternhaus bereits verlassen! Das war kein gutes Zeichen.
Miranda verdrängte diese Gedanken schnell. Griffith sollte sich keine Sorgen machen müssen, dass sie den Verstand verlor. Es reichte schon, dass sie eine alte Jungfer war. Außerdem hatte sie eine ganze Nacht in Selbstmitleid gebadet, und das war mehr als genug. Sie war nicht die Art von Frau, die ständig jammerte. Irgendwann musste damit Schluss sein.
Heute war ein neuer Tag mit neuen Möglichkeiten. Sie unternahm einen Ausritt mit ihrem großen Bruder, den sie viel zu selten sah. Sie hatte eine wunderbare Familie und liebe Freundinnen. Es gab wirklich sehr wenig Anlass, traurig zu sein.
„Das ist wahrscheinlich für eine ganze Weile unsere letzte Gelegenheit zu einem Picknick“, sagte Miranda.
Im Oktober gab es normalerweise nur noch ganz wenige schöne Vormittage, die man im Freien verbringen konnte, aber heute war das Wetter angenehm und ungewöhnlich warm.
„Das stimmt. Ehe wir uns versehen, ist Weihnachten, und danach fahren wir nach London.“
Miranda stöhnte. „Georgina spricht über nichts anderes. Wir werden sicher viel mehr Veranstaltungen besuchen als in den vergangenen beiden Jahren. Sie wird darauf bestehen.“
Jetzt stöhnte Griffith laut. Miranda hatte ihn schon häufiger sagen hören, wie sehr er das ruhige Leben auf dem Land dem in der Stadt vorzog. Von gesellschaftlichen Verpflichtungen befreit zu sein und den Alltag ungestört genießen zu können, waren die wichtigsten Vorteile des Landlebens. Er ertrug die Großstadt nur, um bei seiner Familie zu sein, die gern Kontakte pflegte, und um seine politischen Verpflichtungen im Oberhaus zu erfüllen.
„Sie schreibt jetzt schon auf, welche Garderobe wir brauchen werden“, fuhr Miranda fort. „Sie hat vor, jeden Abend auszugehen. Ich habe versucht, ihr klarzumachen, wie anstrengend das sein wird. Sie hat mich nur von oben herab angesehen und gesagt, dass ich alt wäre.“
„Und dann sind da noch ihre vielen Ideen für ihren eigenen Ball.“ Griffith erschauerte bei diesem Gedanken. „Selbst ich habe das schon mitbekommen.“
Miranda bückte sich leicht, als ihr Pferd unter einem Ast hindurchging. „Sie ist wild entschlossen, dass ihr Ball ein großer Erfolg werden muss. Der gestrige Abend hat zwar bewiesen, dass sie sehr beliebt sein wird, aber ich habe keine Ahnung, wie sie es schaffen will, der Mittelpunkt der Saison zu werden. Schließlich wird sie dort nicht die einzige Blondine sein. Und mit besonders viel Weisheit ist sie auch nicht gerade gesegnet.“
Griffith öffnete den Mund, um seine jüngste Schwester zu verteidigen. Doch nach einem Moment klappte er ihn wieder zu. Offenbar hatte er erkannt, dass man die Wahrheit manchmal einfach nicht leugnen konnte, auch wenn sie noch so brutal klingen mochte.
Die Stimme ihrer Mutter schalt sie im Geiste: „Eine Dame beleidigt nie ihre Familie, auch nicht im privaten Rahmen.“ Miranda verdrängte diese Ermahnung.
„Vielleicht plant sie, einen eingeschworenen Junggesellen zu erobern.“
Miranda lachte. „Oh, ganz bestimmt. Sie hat mir schon gesagt, dass ihr die normalen begehrten Junggesellen nicht reichen. Sie will von allen bewundert werden und strahlender Mittelpunkt der Hochzeit des Jahres sein. Sie hat sogar schon eine Liste erstellt.“
„Eine Liste?“
„Mhm.“ Als sie an die Liste dachte, die Georgina ihr vorgelesen hatte, musste Miranda so kräftig lachen, dass ihr Pferd ein wenig scheute. Es dauerte einen Moment, bis sie sich und ihre Stute wieder im Griff hatte. „Dein alter Schulfreund steht übrigens auch darauf.“
Griffith schaute sie mit hochgezogener Braue an, während sie sich dem Waldrand näherten. „Cottingsworth?“, fragte er überrascht.
Der Viscount von Cottingsworth war ein guter Mann, den Griffith Miranda schon das eine oder andere Mal vorgeschlagen hatte. Sie hatte ihn jedoch nie in Erwägung gezogen, nachdem Cottingsworth angemerkt hatte, wie gut sie aufgrund seiner freundschaftlichen Beziehung zu Griffith zusammenpassen würden. Als sie sich Georgina mit Cottingsworth vorstellte, musste Miranda noch mehr lachen.
Griffith schüttelte den Kopf. „Es verblüfft mich, dass Georgina einen so niedrigen Titel anstrebt. Ich hätte gedacht, dass für sie niemand infrage kommt, der nicht mindestens ein Graf ist.“
„Oh, nein.“ Miranda atmete tief durch, um nicht laut zu kichern. „Sie hat es auf den Herzog abgesehen.“
Sie erreichten den Waldrand und kamen auf eine weite, grüne Wiese. Vögel zwitscherten in den Bäumen und Wiesenblumen bewegten sich anmutig im leichten Wind. Miranda trieb ihre Stute zum Trab an und bereitete sich darauf vor, mit Griffith wie üblich über diese Wiese um die Wette zu reiten. Nach wenigen Schritten merkte sie jedoch, dass Griffith sein Pferd am Waldrand angehalten hatte. „Griffith?“, fragte sie und drehte sich im Sattel um.
„Den Herzog von Marshington?“, fragte Griffith ungläubig. „Aber den hat seit neun Jahren niemand mehr gesehen! Er verschwand während unseres ersten Jahrs in Oxford und meines Wissens hat man ihn seitdem nicht mehr gesehen. Und ganz bestimmt nicht auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung.“
Miranda ritt zu ihm zurück. „Sie meint, wenn