in der Eingangshalle. Vermutlich war das ihre gerechte Strafe, weil sie sich nicht die Zeit genommen hatte, eine kleine Laterne anzuzünden. Wie hatte sie nur so dumm sein können, mit einer ungeschützten Kerze durchs dunkle Haus zu gehen! Sie hielt sich die Hand vors Gesicht und wackelte mit den Fingern. Sie sah nichts. Nicht einmal der kleinste Schatten war zu erkennen.
„Das erschwert die Sache natürlich beträchtlich.“
Jetzt stand sie vor der Wahl, im Erdgeschoss nach Streichhölzern zu suchen, um ihre Kerze wieder anzuzünden, oder sich die Treppe hinauf und zurück in ihr Zimmer zu tasten. Den Rückweg in absoluter Dunkelheit zurücklegen zu müssen, behagte ihr überhaupt nicht. Deshalb tappte sie langsam über den Marmorboden vorwärts. Als sie die Sicherheit des Treppengeländers verließ, hatte sie das Gefühl, in einem Meer aus Dunkelheit zu versinken.
Sie steckte ihre inzwischen kalte Kerze in die Tasche ihres Hausmantels. Dann streckte sie die Hände aus und tastete sich zentimeterweise an der Wand entlang weiter.
Wer hätte gedacht, dass sich Dunkelheit so schwer anfühlte? Die Finsternis bedrängte sie regelrecht von allen Seiten und sie hätte am liebsten größere, schnellere Schritte gemacht oder wäre auf die Knie gesunken und auf dem Boden weitergekrochen. Hauptsache, etwas gab ihr wieder Halt.
Mit einem entschlossenen Seufzen steuerte Miranda auf den Frühstückssalon im hinteren Teil des Hauses zu. In den anderen Zimmern gab es wahrscheinlich auch Streichhölzer, aber sie hatte keine Ahnung, wo das Personal diese aufbewahrte.
Das war der Fluch eines effizienten Haushalts.
Sie kam nur langsam voran. Eine Hand strich über die Erhebungen und Vertiefungen der Prägetapete, die andere hatte sie suchend ausgestreckt, um etwaige Hindernisse frühzeitig zu bemerken.
Miranda schürzte die Lippen und begann zu pfeifen. Ein Stallknecht hatte ihr als Kind das Pfeifen beigebracht, aber sie hatte nie Gelegenheit gehabt, es zu üben, da ihre Mutter es kategorisch verboten und für ungesund erklärt hatte. Die Töne, die aus ihrem Mund kamen, klangen weniger wie eine Melodie sondern vielmehr wie eine willkürliche Wiederholung von drei Noten. Aber alles war besser als die Totenstille des schlafenden Hauses.
Als sie tastend um die Ecke bog, sah sie einen kleinen Lichtschein, der aus der Bibliothek in den Flur fiel und in der Dunkelheit tanzte. Ihre Erleichterung wich schnell einer großen Neugier. Wer war außer ihr noch wach? Georgina hatte sich bestimmt in ihr Zimmer zurückgezogen, wo sie ihrer Zofe von ihrem herrlichen Abend erzählen konnte. Aber ihre Schwester hatte sich ohnehin nie sehr für die Bibliothek interessiert.
Obwohl die Tür nur leicht angelehnt war und das Licht in die andere Richtung fiel, konnte Miranda genug sehen, um sich selbstsicher durch den Korridor zu bewegen. Sie schob die Tür ganz auf und erwartete, Griffith anzutreffen, der irgendein Buch suchte, das er für eines seiner Projekte brauchte.
Doch statt auf Griffith stieß sie nur auf seine Stiefel – vielmehr einen ganzen Berg von seinen Stiefeln –, die auf dem Fußboden vor dem Sofa lagen. Griffiths neuer Kammerdiener saß auf dem Sitzmöbel. Auf seinem Schoß hatte er einen Stiefel ihres Bruders, vor ihm auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch.
„Marlow?“
Er riss seinen Blick von dem Buch los, sprang auf und machte in einer fließenden Bewegung einen Diener. „Mylady, was kann ich für Sie tun?“
„Was machen Sie hier?“ Das schien sie diesen Mann oft zu fragen. Normalerweise hatte sie nicht das Bedürfnis, ihren Bediensteten solche Fragen zu stellen.
„Ich poliere die Stiefel des Herzogs, Mylady.“
„Natürlich.“ Miranda war versucht, die Augen zu verdrehen, aber sie verkniff es sich.
„Eine Dame bewahrt vor dem Personal immer Haltung.“
Und eine Dame verdrehte auch nicht die Augen.
Marlow stand vollkommen still da und sah sie an. Das machte sie ein wenig nervös.
„Ich kann nicht schlafen.“ Warum hielt sie es für nötig, ihm ihre Anwesenheit zu erklären? Das hatte sie noch nie getan, aber seltsamerweise hatte sie das Gefühl, Marlows Privatsphäre gestört zu haben.
„Soll ich Ihnen eine Tasse warme Milch bringen? Oder vielleicht einen Tee?“
„Ich war auf dem Weg in die Küche, um mir Tee zu kochen, als meine Kerze ausging.“ Sie zog die Kerze aus ihrer Tasche und hielt sie hoch.
Marlow öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber schnell wieder. Nach einem Moment setzte er erneut an. „Verzeihen Sie, Mylady, aber wissen Sie, wie man Tee macht?“
„Natürlich.“ Jede Dame konnte einen Tee ziehen lassen.
„Entschuldigen Sie, Mylady.“
Sie standen einige Sekunden wortlos da. Er beobachtete sie stumm, während ihr Blick durch das Zimmer glitt. Griffith sollte die Bücherregale umstellen lassen. Diese Raumaufteilung war alles andere als einladend.
Marlow räusperte sich. „Ich glaube, im Ofen in der Küche brennt kein Feuer mehr.“
„Ja, das denke ich auch.“ Ihre Fingernägel sahen ein bisschen ungepflegt aus. Hatte sie wieder daran gekaut, ohne es zu merken?
Er räusperte sich erneut. Tat er das immer, bevor er etwas sagte? „Können Sie eigentlich ein Feuer anzünden?“
Sie gab sich geschlagen und setzte sich auf den Stuhl an einem kleinen Eckschreibtisch. Miranda verzichtete darauf, sich wie eine Dame zu benehmen, und ließ sich mit einem resignierten Seufzen auf das weiche Polster plumpsen. „Nein. Das kann ich nicht.“
„Wenn Sie erlauben, Mylady, hole ich Ihnen einen Tee.“ Er machte eine perfekte Verbeugung und wandte sich zur Tür.
„Danke, Marlow“, sagte Miranda, als er schon fast aus dem Zimmer war.
Während sie auf seine Rückkehr wartete, spielte Miranda mit den Federn und dem Papierstapel auf dem Schreibtisch. Der kleine Schreibtisch war einer ihrer Lieblingsplätze, wenn sie Briefe schrieb. Ein Stapel Briefe, die an Freundinnen aus London und mehrere entfernte Verwandte adressiert waren, lag bereits dort und wartete darauf, am Morgen frankiert und zur Post gebracht zu werden.
Sie nahm ein Blatt von dem blauen Papier aus ihrem Stapel, da ihre Gefühle wie so oft sehr aufgewühlt waren. Dann tauchte sie eine Feder in die Tinte und begann zu schreiben.
Lieber Marshington,
Georgina hatte heute ihr kleines Debüt in Hertfordshire. Bereits hier hat sie ziemlich viele Verehrer; wenn sie in ein paar Monaten nach London kommt, wird sie zweifellos von Bewunderern umschwärmt werden.
Kann man sich gleichzeitig freuen und traurig sein? Ich glaube, ich freue mich ehrlich über ihren Erfolg, aber mir haben diese vielen Männer, die sie jetzt umschwärmen, kaum Beachtung geschenkt, als ich vor ein paar Jahren mein Debüt hatte.
Miranda brachte ihre Gefühle hastig kritzelnd zu Papier. Dass sich darauf hier auch ein Tintenfleck und dort ein verwischtes Wort befanden, spielte keine Rolle. Niemand außer ihr würde diese Worte je zu Gesicht bekommen, und sie nahm sich selten die Zeit, ihre Briefe noch einmal zu lesen.
Irgendwann sollte sie die Briefe wahrscheinlich einmal verbrennen, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Stattdessen bewahrte sie ihre Briefstapel in einer Truhe unter ihrem Bett auf.
Diese Briefe hatten ihr immer wieder geholfen, nicht den Verstand zu verlieren. Sie war längst über das Alter hinaus, in dem Fantasiefreunde akzeptabel waren. Dass ihr „Freund“ eigentlich kein Produkt ihrer Fantasie war, sondern einfach nichts von ihrer Existenz und den Briefen wusste, war nur ein schwacher Trost.
Trotzdem ließ sie auch viele Jahre nach dem ersten Brief die Vorstellung nicht los, dass Griffiths alter Freund sie verstehen würde.
Ich weiß, dass ich relativ intelligent bin, dass ich passabel aussehe und dass ich einen Haushalt leiten kann. Wobei: Heute Abend musste ich feststellen, dass ich noch nicht mal Feuer machen kann.