Nichts könnte sie dann noch retten. Dieser Mann, dem sie nie begegnet war, hielt ihre Zukunft in den Händen. Das war ein sehr ernüchternder Gedanke.
Sie ging auf dem Aubusson-Teppich, den sie sich am Ende ihrer zweiten Saison gegönnt hatte, auf und ab. Damals war sie aufs Land zurückgekehrt, ohne einen einzigen Heiratsantrag bekommen zu haben. Wenigstens keinen, den sie ernsthaft in Betracht gezogen hätte.
„Ich kann das in Ordnung bringen. Es muss eine Möglichkeit geben, das in Ordnung zu bringen. Denk nach, Miranda, denk nach!“
Diese eine Zeile, die ein Aristokrat geschrieben hatte, den seit Jahren niemand mehr gesehen hatte, brannte sich förmlich in ihren Kopf. Überall, wohin sie schaute, sah sie ihn. „Kennen wir uns?“
„Was soll diese dumme Frage? Welchen Unterschied würde es machen, wenn wir uns kennen? Einen solchen Brief könnte ich niemals einem Mann schicken, selbst wenn ich ihn seit meiner Kindheit kennen würde.“
Ihr nervöses Auf und Ab endete vor ihrem kleinen Schreibtisch. Sie saß nicht sehr oft an diesem Tisch, weil sie die größeren Fenster im Salon und in der Bibliothek bevorzugte, durch die deutlich mehr Licht in den Raum fiel. Trotzdem lag ein kleiner Stapel Papier in der flachen Schublade, und eine Feder sowie ein Tintenfass waren auch immer griffbereit.
Sie sank seufzend auf den Stuhl. Mit zitternden Händen strich sie den Brief des Herzogs auf dem Tisch glatt.
„Ich schaffe das. Ich muss mir nur vorstellen, ich wäre in einem Londoner Ballsaal und müsste eine unangenehme Situation klären.“ Leider war das hier die unangenehmste Situation, die man sich nur vorstellen konnte.
Langsam und sorgfältig legte sie ein sauberes weißes Blatt Papier vor sich auf den Schreibtisch. Sie tauchte die Feder mit größter Präzision in die Tinte und achtete sorgfältig darauf, dass nichts auf das Papier tropfte. An dieser Antwort musste alles perfekt sein.
Einige Momente vergingen.
Im Zimmer war es ganz still. Selbst das leise Prasseln der Regentropfen auf die Fensterscheibe verstummte. Die Tinte begann, auf der Spitze ihrer Feder zu trocknen.
Mit einem Stöhnen zog Miranda blaues Papier heran und begann zu schreiben. In einem Fluss aus schwarzer Tinte schüttete sie ihr Herz aus.
Marsh,
du wärst entsetzt, wenn du wüsstest, was ich getan habe. Ich habe dir versehentlich einen Brief geschickt. Es ist mir so furchtbar peinlich, dass mein erster Kontakt zu dir durch einen emotional aufgewühlten Tagebucheintrag zustande kommt. Was musst du nur von mir denken?
Was sollte der Mann schon denken? Es hatte immer die Möglichkeit bestanden, dass sie sich eines Tages begegnen würden. Dass sie ihm in den vergangenen Jahren geschrieben hatte, war so verführerisch, dass sich das Schicksal diese Chance nicht entgehen lassen konnte. Miranda glaubte zwar nicht an das Schicksal, aber offenbar hatte Gott beschlossen, dass sie eine Lektion lernen müsste: Sie durfte andere Menschen nicht ohne deren Wissen benutzen. Vielleicht war es auch irgendeine andere Lektion. Irgendwo in dem Ganzen musste eine Lektion stecken, denn das passierte sicher nicht nur, damit ihr Leben ruiniert war.
Es ist so, dass ich dir seit Jahren schreibe, seit mein Bruder mir Geschichten von dir erzählt hat. Du warst mein fiktiver, aber trotzdem realer Freund, dem ich alles erzählen konnte. Ich habe eine ganze Truhe voller Briefe. Ich kann aber immer noch nicht glauben, dass ich dir tatsächlich einen dieser Briefe geschickt habe!
Noch schlimmer ist, dass du irgendwo in der Nähe sein musst, weil du meinen Brief so schnell bekommen und beantwortet hast! Ich weiß nicht, woher Marlow wusste, wohin er ihn schicken musste.
Und jetzt muss ich dir antworten. Ich kann dir nicht antworten, Marsh. Was soll ich dir denn schreiben?
Ich hoffe, es stört dich nicht, dass du für mich Marsh bist. So nennt dich Griffith, wenn er von dir spricht, auch wenn er das in den vergangenen Jahren nicht mehr oft getan hat. Als er zur Schule ging, hat er viel von dir erzählt. Was mache ich hier eigentlich? Ich muss dir einen richtigen Brief schreiben!
Nachdem sie das Chaos in ihrem Kopf ein wenig sortiert hatte, holte Miranda tief Luft und schob die niedergeschriebenen persönlichen Worte zur Seite. Was konnte sie schreiben, um den Brief zu erklären, den der Herzog von ihr bekommen hatte? Sie musste sich rasch etwas einfallen lassen, denn wenn er in der Nähe war, stand er möglicherweise mit Griffith in Kontakt, und ihr Bruder durfte auf keinen Fall wissen, dass sie seinem Freund regelmäßig schrieb, als wäre sie ein kleines Mädchen, das eine Schwäche für einen Spielkameraden seines großen Bruders hatte. Auch wenn das der Wahrheit unangenehm nahe kam.
Mit einem tiefen Atemzug setzte sich Miranda auf ihrem Stuhl zurecht. Sie schob die Locken aus ihrem Gesicht und biss entschlossen die Zähne zusammen. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das weiße Blatt und nahm erneut ihre Feder zur Hand.
Eure Durchlaucht,
ich schäme mich zutiefst wegen des Briefes, den Sie bekommen haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was Sie von mir denken müssen. Bitte glauben Sie mir, dass dieser Brief nie hätte abgeschickt werden sollen. Falls sich unsere Wege je kreuzen sollten, hoffe ich, dass Sie diesen Vorfall längst vergessen haben.
Es ist eine dumme Angewohnheit von mir, imaginäre Briefe an Menschen zu schreiben, die ich nicht kenne, um meine Gedanken zu ordnen. Ich finde das viel hilfreicher, als ein Tagebuch zu führen. Ein kleines Missverständnis sorgte wohl dafür, dass dieser Brief in der Post gelandet ist.
Ich entschuldige mich vielmals.
Hochachtungsvoll
Lady Miranda
Miranda las mehrmals, was sie geschrieben hatte. Die Worte klangen ruhig und gefasst und, was am wichtigsten war, nicht so, als würde sie immer nur dem Herzog von Marshington schreiben, sondern vielen verschiedenen Leuten. Das war viel besser. Wenigstens ihrer Meinung nach.
Als sie den Brief mehrmals gelesen hatte, war die Tinte getrocknet, und sie konnte das Blatt falten, um es in die Post zu geben. Sie schrieb außen auf den Brief den Namen des Herzogs, doch dann erstarrte sie. Sie müsste Marlow suchen, um ihn zu fragen, wohin er ihren letzten Brief geschickt hatte. Ihre Gefühle purzelten wild durcheinander.
Wie wäre es wohl, ihn wiederzusehen?
Seit ihrer Begegnung im Salon in der vergangenen Woche ging dieser Mann ihr offenbar genauso aus dem Weg wie sie ihm. Wenn sie darüber nachdachte, wie oft sie ihm an seinen ersten beiden Tagen im Schloss begegnet war, war es wirklich erstaunlich, dass sie ihn seither nur aus der Ferne gesehen hatte.
Sie tippte mit dem gefalteten Brief nachdenklich auf den Schreibtisch. Wo könnte Marlow mitten am Vormittag stecken? Hoffentlich war er noch in Griffiths Räumlichkeiten. Dort könnte sie ungestörter mit ihm sprechen.
Als sie sich erhob, fiel ihr Blick auf ihren unordentlich gefalteten Tagebuchbrief. Sie sollte diesen lieber in ihre Truhe sperren, um nicht das Risiko einzugehen, dass jemand einen weiteren Tagebuchbrief fand – aber noch wichtiger war, dass sie den echten Brief abschickte, bevor der Mut sie verließ. Sie schob den blauen Brief unter ein Buch, das sie von ihrem Nachttisch nahm. Hier wäre er sicher, solange niemand zu neugierig danach suchte.
Sie strich ihr Kleid glatt, atmete tief ein und marschierte mit dem echten Brief in der Hand entschlossen zur Tür. Nichts würde sie jetzt davon abhalten, Marlow zu finden, selbst wenn sie jeden Dienstboten im Haus nach seinem Verbleib fragen müsste. Sie öffnete die Tür und trat entschlossen hinaus. Sie würde sich durch nichts davon abbringen lassen, diesen Brief sofort abzuschicken.
Dann bekam sie einen Schlag auf die Nase.
7
Ryland fuhr zurück, als die Tür, an die er hatte klopfen wollen, geöffnet wurde und an ihrer Stelle Mirandas entschlossenes Gesicht auftauchte. Seine erhobene Faust traf ihre Nase.
„Oh!“ Ihr Keuchen kam im gleichen Moment wie sein überraschter Ausruf.
„Mylady!“ Gott sei Dank hatte er nicht ihren Namen gerufen. Das verdankte er zweifellos seiner jahrelangen Erfahrung