Kristi Ann Hunter

Entführung ins Glück


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      Er verzog bedauernd das Gesicht und beugte sich zu ihr hinab.

      „Sind Sie verletzt?“ Das klang angemessen verzweifelt. Griffith würde bestimmt nicht freundlich reagieren, wenn er hörte, dass Ryland seine Schwester zu Boden geschlagen hatte. Wenn er ein echter Kammerdiener wäre, müsste er nach einem solchen Vorfall mit seiner Entlassung rechnen.

      Sie nahm die Hände von ihrem Gesicht und runzelte die Stirn. „Ich blute.“

      Ihre Stimme klang ruhig. Wahrscheinlich stand sie immer noch unter Schock. Diese Frau war wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nie geschlagen worden war. Selbst in ihrer Kindheit hatte es vermutlich nie eine Ohrfeige gegeben.

      Er betrachtete ihre Hände und entdeckte einige kleine rote Flecken. Er hatte sie offenbar nicht so heftig getroffen, wie er befürchtet hatte, denn aus ihrer hübschen Nase floss kein Blut. Ryland schüttelte den Kopf. Er sollte sich wirklich nicht darum kümmern, wie hübsch Mirandas Nase aussah, egal, ob sie blutete oder nicht.

      Sie hielt ihm anklagend die Hände hin. „Ich blute!“, sagte sie noch einmal, dieses Mal mit deutlich mehr Gefühl.

      „Aber nicht stark. Ich habe schon Schlimmeres gesehen.“

      Das war offensichtlich nicht die richtige Antwort.

      Sie schaute ihn finster an. Einige Sekunden vergingen, in denen Ryland nichts anderes tun konnte, als in ihre zusammengekniffenen grünen Augen zu schauen. Es gab viel unangenehmere Arten, seine Zeit zu verbringen, aber ihre Augen gehörten in die gleiche Kategorie wie ihre Nase: Sie waren im Moment für ihn tabu. Wenn diese Mission vorüber war, könnte er vielleicht mehr Zeit damit verbringen, ihr Gesicht zu betrachten, aber im Augenblick war das keine gute Idee.

      Er stellte sich auf einen Wutausbruch ein. Alle Anzeichen, die er bis jetzt gesehen hatte, deuteten darauf hin, dass in dieser Frau starke Gefühle brodelten, die aber hinter einer Mauer aus damenhaftem Verhalten gut verborgen waren.

      „Ich sollte wahrscheinlich etwas auf meine Nase legen. Trent legt immer Fleisch auf seine Nase, wenn er sich geprügelt hat.“ Ein leichter Schauer durchfuhr sie, bevor sie ihren Monolog fortsetzte.

      Dass sie in einer so ungewöhnlichen Situation in der Lage war, pragmatisch zu denken, verschlug ihm die Sprache.

      „Das ist bestimmt eklig. Ich ziehe es vor, wenn mein Fleisch gut durchgebraten und mit Soße bedeckt ist. Ich weiß, das ist typisch englisch. Aber ich war noch in keinem anderen Land. Deshalb muss ich mich auch nicht überwinden, halbrohes Fleisch zu essen.“

      War sie sich überhaupt bewusst, dass er sich noch im Zimmer befand? Er hatte noch nie eine adelige Dame getroffen, die Selbstgespräche führte. Und er fand es ausgesprochen reizend. „Kälte soll angeblich helfen, Mylady.“

      Sie fuhr erschrocken zu ihm herum und errötete. Sie hatte tatsächlich vergessen, dass er im Zimmer war. Das war ein ziemlich demütigender Gedanke.

      Sie wedelte mit der Hand herum, als wollte sie ihre Verlegenheit wegwischen, um sich auf das konzentrieren zu können, was wichtig war. „Würden Sie dafür sorgen, dass dieser Brief abgeschickt wird? Sie können ihn an dieselbe Adresse senden wie den Brief letzte Woche.“

      Schon seit Jahren war er gezwungen, seine Gedanken und Gefühle vor anderen zu verbergen. Und nur dieser Erfahrung hatte er es zu verdanken, dass er seine Freude darüber verbergen konnte, dass sie seinen Brief so schnell beantwortet hatte. Diese Freude wurde jedoch rasch von Verwirrung abgelöst. Ihre Hände waren leer. Auf dem Fußboden neben ihr lag auch nichts. Falls sie nicht darauf saß, hatte er keine Ahnung, wo der Brief war, von dem sie sprach. „Welcher Brief, Mylady?“

      Miranda betrachtete stirnrunzelnd ihre leeren Hände. Dann schaute sie sich um. Sie deutete zu ihrem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers. Ein weißes Blatt Papier lag zwischen dem Tisch und dem Stuhl. Er zog eine Braue hoch, als er die anderen Briefe sah, die auf dem Boden verstreut waren, entschied sich aber, lieber nichts zu sagen.

      „Dort drüben. Er ist an den Herzog von Marshington adressiert.“

      Während er sich bückte, um den Brief aufzuheben, hörte er, wie sie sich zum Bett schleppte. War ihr schwindelig? Sie musste sich an den Möbelstücken festhalten, um auf den Beinen zu bleiben. Er ließ ihr respektvoll einige Sekunden Zeit, sich wieder zu fangen.

      Währenddessen betrachtete er den Schreibtisch. Die kleine Ecke eines blauen Blatt Papiers lugte unter einem dünnen Gedichtband hervor. Er hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. Hatte sie als Antwort auf seine kurze Zeile zwei Briefe geschrieben?

      „Sie haben kaum geblutet“, murmelte er leise. Er hatte schon mehr Blut verloren, wenn er sich ohne Spiegel eilig rasiert hatte. Ihr Schock musste also der Grund dafür sein, dass sie sich so mühsam durchs Zimmer schleppte. Er hatte schon genügend Verletzungen erlebt, um zu wissen, dass auch oberflächliche Wunden einen Menschen schwächen konnten.

      „Was haben Sie gesagt?“, murmelte sie.

      „Ich habe nur überlegt, ob ich Ihnen helfen kann, Mylady.“ Ryland warf den Brief auf den Schreibtisch und ging zu ihr, um sie zu stützen. Ein angenehmer Duft, den er nicht genau einordnen konnte, stieg ihm in die Nase. Der Duft passte gut zu ihr.

      „Helfen Sie mir bitte, nach unten zu kommen.“

      Er hielt ihren Arm, während sie einige langsame, unsichere Schritte ging. Bei dem Tempo, in dem sie sich bewegte, wäre es Zeit zum Abendessen, bis sie irgendwo ankäme.

      „Wenn Sie erlauben, Mylady.“ Ryland schwang sie auf seine Arme und genoss es, als sie sich überrascht und vielleicht auch ein wenig ängstlich an seine Schultern klammerte. Wahrscheinlich hatte sie niemand mehr auf den Armen getragen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war.

      „Stellen Sie mich sofort ab!“, zischte sie.

      „Mylady.“ Ryland wusste, dass er so klang, als spräche er mit einem unmündigen Kind. „Das ist der schnellste Weg, um Sie dorthin zu bringen, wohin Sie möchten.“

      „Dann bringen Sie mich in den kleinen Salon. Sie können Sally holen und ihr sagen, dass sie mir das Fleisch bringen soll.“ Ein weiterer Schauer durchfuhr sie.

      Ryland nahm ihn dieses Mal viel deutlicher wahr, da sie in seinen Armen lag. Er begann zu schwitzen.

      „Natürlich, Mylady.“

      Nachdem er sie im Salon vorsichtig aufs Sofa gelegt hatte, verbeugte sich Ryland und verließ rückwärts gehend den Raum. Er schickte einen Diener los, um Sally zu holen. Er selbst kehrte in Mirandas Zimmer zurück, um den Brief zu holen.

      Ryland hob die Briefe auf, die neben dem Schreibtisch auf den Boden gefallen waren. Er hatte leichte Schuldgefühle, weil er ihre morgendlichen Aktivitäten durcheinandergebracht hatte. Nachdenklich strich er mit dem Finger über das Teppichmuster. Das Muster erinnerte ihn vage an einen edlen Teppich in seinem Londoner Stadthaus. Zumindest hatte der Teppich noch in der Bibliothek gelegen, als er das letzte Mal zu Hause gewesen war. Es war möglich, dass sein geldgieriger Vetter ihn zu Geld gemacht hatte, aber das bezweifelte er. Er bezahlte seinem Hausverwalter und seinem Anwalt exorbitante Summen dafür, dass sie seine Verwandten in Schach hielten.

      Er legte die Briefe auf den Schreibtisch, dann hob er den weißen Brief auf, den er zur Post bringen sollte. Der blaue Zettel, der unter dem Gedichtband hervorspitzte, weckte erneut seine Neugier. Mit einem Grinsen holte er ihn hervor, dann las er beide Briefe. Sie plante also, dem Herzog von Marshington die kalte Schulter zu zeigen. Der formelle Ton ihres offiziellen Briefs kam seinen Absichten überhaupt nicht entgegen.

      Das blaue Blatt steckte er schließlich in seine Tasche und das weiße schob er unter das schmale Buch. Das würde Miranda zweifellos durcheinanderbringen, aber nach dem leichten Schlag auf den Kopf würde sie sich fragen, ob sie sich vielleicht doch geirrt hatte.

      Er war schon fast wieder an der Tür angelangt, als ihm bewusst wurde, dass er sich in Mirandas Zimmer befand.

      Allein.

      Er hatte keine Skrupel gehabt,