Lin Rina

Vom Wind geküsst


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an.

      Er sah noch irritierter aus. Sicher wusste er nicht recht, was er von Justus’ Kommentar halten sollte. Ich wusste es ja auch nicht.

      »Und?«, forderte ich ihn auf, damit er mir seine Aufmerksamkeit schenkte, und er blinzelte zu mir herunter.

      »Sie kämpfen um die Landesspitze«, brachte er etwas unsicher heraus und schob die Hände in die Hosentaschen. »Die Windküste.«

      Ich verschluckte mich beinahe an dem Bissen, den ich gerade im Mund hatte.

      »Es liegt nicht auf eurer Route, aber es ist ein wunderschöner Landstreifen. Mein Vater und ich waren letzten Herbst einmal dort. Ich habe noch nie so einen wundervollen Strand gesehen«, fuhr er fort und ich vergaß zu atmen.

      Ich wusste, dass die Fürsten von Albahr und Mari seit Jahren in einem Konflikt standen. Doch ich hatte mich nie viel für Politik interessiert. Doch zu hören, dass sie um die Windküste stritten, versetzte mir einen Schlag.

      Meine Heimat, schoss es mir durch den Kopf. Ich kannte den Strand und die seichten Wellen, die um die nackten Knöchel schäumten und sich sanft wieder zurückzogen. Die Sonnenuntergänge, die hellen Laubwälder, die flachen Steppenländer, durchzogen von Flussläufen. Oft träumte ich davon, sehnte mich danach, wusste, dass mir dieser Ort ins Herz geschrieben war.

      Es war die Heimat meines Volkes gewesen, bevor die Menschen es ausgerottet hatten. Jetzt, da es kein Windvolk mehr gab, gehörte es niemandem.

      Außer vielleicht mir. Aber ich konnte schlecht einen Anspruch geltend machen, ohne mich zu verraten. Und das würde mich in Lebensgefahr bringen.

      Justus nahm sanft meine Hand und holte mich aus meinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück.

      Ich schluckte umständlich und sah in die Gesichter der Anwesenden, die alle ein wenig verwundert dreinblickten. Die Dörfler glaubten sicher, ich wäre ein wenig verrückt.

      »Ich hole mir noch ein Zuckerbrötchen«, stammelte ich, obwohl ich noch ein halbes in Händen hielt, und wandte mich schnell ab.

      Justus drückte ein letztes Mal meine Finger und ließ mich dann widerwillig gehen.

      Ohne wirklich darauf zu achten, lief ich zu den Platten und stand ratlos davor. Der Appetit war mir vergangen.

      Laila trat lächelnd neben mich und stupste mich mit der Schulter an. »Na, alles in Ordnung?«, fragte sie leichthin und nahm sich ein Gebäck.

      Ich nickte und schaffte es sogar, ihr ebenfalls ein Lächeln zu schenken. Doch es gefror mir im Gesicht, als ich hinter ihr einen jungen Mann entdeckte, der mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Er war schlank, etwas schlaksig und beobachtete mich. Seine blonden Locken tanzten in einem leichten Lüftchen.

      Bei allen Winden, es war wieder der Kerl aus der Stadt, in der wir die Briefe am Haus des Stadtrates abgegeben hatten.

      Er war mir gänzlich entfallen nach der Sache mit Justus und diesem Mädchen.

      Warum war er hier? War es Zufall? Es musste Zufall sein.

      Oder hatte Mei am Ende recht gehabt? Er hatte sich Hals über Kopf in mich verliebt und folgte uns nun von Dorf zu Dorf.

      Blödsinn! So etwas passierte nur in Geschichten und nicht in der Wirklichkeit. Und vor allem nicht mir.

      Der junge Mann fing kurz meinen Blick auf, lächelte wieder dieses besondere Lächeln und verschwand dann mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.

      Ich fröstelte, obwohl es nicht wirklich kalt war, und fühlte mich einen Moment lang so schrecklich einsam, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt.

      Heute Nacht wollte ich auf keinen Fall allein sein. Ich war von einer Nervosität befallen, die sich nicht abschütteln ließ. Besonders, weil der Wind schon wieder verschwunden war.

      Keine Ahnung, was zurzeit mit ihm los war, aber es trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Im Gegenteil.

      Ich floh zwischen den Dörflern hindurch zu meinem Wagen. Immer noch spürte ich die Beklemmung in meiner Brust, rief den Wind noch einmal und hängte schnell das Windspiel wieder auf. Nur zur Sicherheit. Schließlich hatte ich den Wind die Male zuvor immer wieder dort vorgefunden. Doch diesmal blieb er weiterhin fern.

      Doch obwohl der Fremde verschwunden war, hielt ich mich den restlichen Abend in der Nähe der anderen, um zu keinem Zeitpunkt ganz allein zu sein.

      Es war noch nicht sehr spät, als die letzte Gruppe Dörfler den Weg nach Hause antrat. Das gefiel mir an den kleinen Dörfern. Es war alles viel familiärer, nicht so große Menschenmassen, und man kam früher ins Bett.

      Als ich wieder zu meinem Wagen lief, fand ich dort auch endlich den Wind in gleichmäßigen Bahnen um die Muscheln kreisen. Er summte wieder dieses Lied, unterstützt von den leisen Klängen der silbernen Röhren.

      Was ist nur los mit dir?, fragte ich ihn wie jedes Mal besorgt.

      Erneut trug er mir nichts als tiefe Erschöpfung entgegen. Keine Erklärung. Doch zumindest war er da.

      Liebevoll berührte ich ihn und er schmiegte sich müde an meine Hand.

      Als ich wieder hinausging, folgte er mir und zog träge an meinem losen Haar.

      Die Dörfler waren gegangen und viele von uns schon in ihren Betten verschwunden.

      Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. Unmöglich konnte ich heute Nacht in einem stickigen Wagen schlafen, in dem Ayo schnarchte und Mei im Traum redete. Allein im Wald wollte ich allerdings genauso wenig sein.

      Zum ersten Mal wünschte ich mir, dass Marc ein Mädchen mitgenommen hätte, damit Justus gezwungen wäre, bei mir zu sein.

      Ich konnte ihn ja kaum darum bitten, bei mir zu bleiben. Oder etwa doch? Früher hätte ich es einfach gemacht, doch seit unserem Streit und all den Gefühlen, die in mir tobten, fühlte ich mich unsicher, fahrig und unwürdig.

      Leise, damit ich die anderen nicht störte, holte ich mein Schlafbündel aus dem Wagen und trat wieder raus in die Dunkelheit der Nacht. Der Himmel war klar, der Mond warf Schatten auf die Lichtung und die Sterne funkelten wie Millionen Glühwürmchen.

      Nicht weit entfernt hörte ich eins der Kappa muhen.

      »Du bist noch wach?«, fragte Justus überrascht und ich schreckte zusammen. Er kam die Stufen seines Wagens hinunter und auf mich zu. »Ich dachte, du wärst schon schlafen gegangen. Ich wollte grade schauen, wo du dich in den Wald geschlagen hast.« Er gähnte und ließ die muskulösen Schultern kreisen, um sie zu lockern.

      Ich seufzte still und wünschte mir, er würde mich auf der Stelle in die Arme schließen, mir übers Haar streichen und sagen, dass alles in Ordnung war. »Justus?«

      Er sah mich fragend an.

      Ich öffnete den Mund und stockte. Es war so schwer, mich zu überwinden und meine Gedanken in Worte zu fassen.

      Obwohl ich all meinen Mut zusammennahm, schaffte ich es trotzdem nicht, ihm in die Augen zu sehen. »Kannst du … ich möchte nicht … wäre es möglich, dass du …«, stammelte ich, krallte die Finger in das Schlafbündel und versuchte schnell noch einmal darüber nachzudenken, wie ich es am besten formulierte.

      »Was ist los? Du bist ja blass wie ein Gespenst«, sagte er und Sorge trat an die Stelle der Müdigkeit, die vorher seine Züge gezeichnet hatte.

      »Ich bin doch immer blass«, wollte ich mich rausreden, doch Justus streckte seine große, warme Hand nach mir aus und berührte meine Wange.

      »Aber nicht so blass. Wenn du so vor dich hin stotterst, bist du normalerweise so leuchtend rot wie ein Signalfeuer.«

      Er machte sich immer so viele Gedanken um mich. Der beste große Bruder der Welt, wenn ich ihn nur länger als solchen betrachten könnte.

      »Es ist nichts. Vergiss es lieber.« Ich wand mich aus seiner beschützenden Hand, drückte mein Schlafbündel fester an die Brust und wandte mich