dem „deutschen“ Luther. Diese Zustimmung bezog sich aber immer nur auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die Luther anstieß, nie aber auf seine Theologie. Zu denen, die Luther priesen, gehörten insbesondere Schriftsteller und politische Denker, die aus dem jüdischen Milieu ihrer Familien ausgebrochen und wie Ludwig Börne und Heinrich Heine zum Christentum konvertiert oder wie Karl Marx bereits als Kind getauft worden waren.22
Für Heine war Luther Wegbereiter einer bevorstehenden deutschen Revolution: „Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da vollbringt was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf, – der dritte Befreier!“23 Wie ambivalent seine Haltung gegenüber Luthers Wirkung denn aber ist, wird in der Reihung von Paradoxa deutlich, mit der er den Reformator zu fassen versucht: „Er war ein kompletter Mensch, ich möchte sagen ein absoluter Mensch, in welchem Geist und Materie nicht getrennt sind. Ihn einen Spiritualisten nennen, wäre daher eben so irrig, als nennte man ihn einen Sensualisten. Wie soll ich sagen, er hatte etwas Ursprüngliches, Unbegreifliches, Mirakulöses, wie wir es bei allen providentiellen Männern finden, etwas schauerlich Naives, etwas tölpelhaft Kluges, etwas erhaben Borniertes, etwas unbezwingbar Dämonisches.“24 Heines „Ruhm dem Luther!“ unterscheidet ihn von Ludwig Börne, der Luther der Lähmung des deutschen Patriotismus zieh; für ihn war die Reformation „die Schwindsucht, an der die deutsche Freiheit starb, und Luther war ihr Totengräber.“25
Marx schließlich folgerte 1844: “Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt.“26
Erst als das Ideal des „Aufklärungsluther“ im späteren 19. Jahrhundert vom „kirchlichen Luther“ und vom „deutschen Luther“ im Sinne einer Einheit von protestantischem Christentum und Preußischem Königtum überlagert wurde, folgerte der Historiker Heinrich Graetz in seiner Volkstümlichen Geschichte der Juden (Leipzig 1889) mit Blick auf Luthers Judenschriften nunmehr voller Ablehnung: „So hatten denn die Juden an dem Reformator und Regenerator Deutschlands einen fast noch schlimmeren Feind […], jedenfalls einen schlimmeren als an den Päpsten bis zur Mitte des Jahrhunderts“.27
Zum Reformationsgedenken von 1917 wurden in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ganz unterschiedliche Stimmen zu Luther laut. Hermann Cohen (1842−1918) pries ihn in den Neuen Jüdischen Monatsheften als einen „Schöpfer des Deutschtums“ und lobte wie zuvor schon Abraham Geiger seine Übersetzungstätigkeit: „Er hat dadurch die ursprüngliche Bestimmung der Bibel, welche das Judentum in seiner ganzen Geschichte treulich gepflegt hat, in der Christenheit zur Erfüllung gebracht“.28 Der Neu-Kantianer Cohen befand: „Auch als deutscher Staatsbürger hat der moderne Jude Martin Luther als den Urheber des modernen Staatsgedankens zu feiern und eine unvergängliche innige Dankbarkeit seinem Andenken zu weihen“.29 Mit Blick auf Luthers Bibelübersetzung, Rechtfertigungslehre und Anschauung vom Staat kam er zu dem Schluss, dass Luther, „dieser deutsche Geistesheld“, Erbe des Judentums gewesen und deshalb den Juden besonders nahe sei.30
Dagegen übte der Wiener Talmudwissenschaftler und Historiker Samuel Krauss (1866−1948) entschieden Kritik. Er betonte in der Zeitschrift Der Jude Luthers Judenfeindschaft – „War sein Glaube tief und unermesslich, so war auch sein Hass unergründlich“ – und fragte, ob der Reformator, „wer weiß, am Ende vielleicht auch noch das Alte Testament verstoßen hätte“. Und dennoch: „Die Grundsätze, die Luther zu Beginn seiner Laufbahn in alle Welt eingeführt hat, Grundsätze der Aufklärung und der freien Entfaltung des menschlichen Geistes, darunter die Ablehnung gegen Juden gerichteten geistigen oder leiblichen Glaubenszwanges, erwiesen sich als gewaltige Faktoren der Folgezeit, die selbst durch Luthers eigene Fehler nicht mehr zu bannen waren“.31
Die neuzeitliche Beschäftigung des Judentums mit dem Christentum ist eng mit den Rabbinern Abraham Geiger und Leo Baeck verbunden. So wie schon Abraham Geigers Beschäftigung mit dem jüdischen Jesus und mit dem Christentum der Entwurf einer Gegengeschichte gewesen war, so hatte auch Rabbiner Leo Baeck (1873−1956) sein Wesen des Judentums (1905) als Gegengeschichte angelegt. Gerade die „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers, die das Leben in einen politisch-gesellschaftlichen und einen religiösen Bereich zu trennen scheint, ist für Leo Baeck eine zentrale Säule seiner Kritik am Luthertum.32 Der Mensch werde ganz passiv beschrieben, der Gnade und Erlösung bedürftig und somit unfähig, die Welt aktiv nach Gottes Wollen zu gestalten.33 Neben dem Menschenbild war es aber die enge Verbindung von Thron und Altar, die Baeck Martin Luther zuschrieb. 1926 stellte er gegenüber Rabbiner Caesar Seligmann (1860−1950) fest: „Es ist ein geistiges und moralisches Unglück Deutschlands, daß … man aus dem Deutschtum eine Religion gemacht hat. Anstatt an Gott zu glauben, glauben sie – lutherische Pfarrer voran – an das Deutschtum“.34 Durch seine Bindung an den Staat habe es das Luthertum versäumt, zum Träger einer universalen Botschaft zu werden. Es habe die Chance, Weltreligion zu sein, nicht wahrgenommen. Die absolute Unabhängigkeit der Religion vom Staat war dabei für Baeck von höchster Bedeutung. Die lutherische Reformation aber habe die Religion an den Staat ausgeliefert. Arnold Zweig (1887−1968) sprach in diesem Zusammenhang sogar davon, dass „Luther in der Vergottung des Staates durch die Identität von oberstem Bischof und Landesherrn zur Vernichtung seiner eignen reformatorischen Tat aus Gründen der Politik das letzte Wort“ gesprochen hatte.35
Leo Baeck gewahrte hier Tendenzen, die für den autoritären Staat wegbereitend waren und die die schweigende Billigung des Nationalsozialismus durch die Mehrheit der Bürger förderten. In einem Polizeistaat, der keinerlei Raum mehr für die persönliche Entscheidung lässt, sah er den direkten Abkömmling des Luthertums. Der nationalsozialistische Staat war ihm somit die logische Konsequenz einer fehlgeleiteten theologischen Evolution. Kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten stellte Leo Baeck 1932 in Zwischen Wittenberg und Rom schließlich fest: „Es ist ein Mangel im Protestantismus, dass er, der dem Volk die Bibel gegeben hat, dann die Bibel, die im Leben oder gar nicht sein will, zum bloßen Predigt- und Andachtsbuch gemacht hat.“ […] „Die gerade im Protestantismus so häufige Ablehnung des Alten Testaments, dieses eifervollen Buchs, geht wohl nicht am wenigsten auf eine Ablehnung dieses Gebotes zurück, auf die altestamentliche Deutlichkeit von: ‚Ich bin der Ewige, Dein Gott, Du sollst!‘“.36 Nach der Machtergreifung konstatierte Baeck dann im Oktober 1933 in Das Judentum in der Gegenwart: „Innerhalb des deutschen Protestantismus hat sich vielfach gegenüber den Fragen, die sich aus der Beschaffenheit, den Beständen und Zuständen dieser Welt ergeben, eine neue Art der theologischen Beantwortung durchgesetzt, die von einem Glauben an ‚Schöpfungsordnungen’ ausgehen will und sich hierfür, sei es mit Recht oder Unrecht, auf die Lehre Luthers beruft“.37
Mit Luthers 450. Geburtstag 1933 setzte eine Rückbesinnung auf den Reformator