wird. Schon in der Habilitationsschrift ist von der Selbstbehauptung der Vernunft vor der Gewissheitsfrage die Rede. Doch wie unvergleichlich plastisch ist die Schilderung der Ohnmachten und Selbsterhaltungsnöte bei diesem Autor. »Denn da er Macht in jeder Form fürchtet«, schreibt Canetti, »da das eigentliche Anliegen seines Lebens darin besteht, sich ihr in jeder Form zu entziehen, spürt, erkennt, nennt oder gestaltet er sie überall dort, wo andere sie als selbstverständlich hinnehmen möchten.«295 Später, im Kontext der Legitimität der Neuzeit, wird Blumenberg von der Infragestellung rationaler Konstanten durch den ungeheuren Druck der Zumutungen eines allmächtigen Gottes sprechen, der die nicht mehr tangierbaren Kerne des Humanen hervorgetrieben habe; aber schon im »Brief an den Vater« zeigt sich im Konkreten ursprünglicher Situationen, was es bedeutet, sich auf nichts verlassen zu können. Unter der Macht des absoluten Vaters »fühlt man alle sonst verläßlichen Realitäten förmlich ›verdampfen‹; das Bewußtsein einer bodenlosen Nichtigkeit bleibt zurück«.296 Schon Kafka ist daher ein Beispiel für die Frage nach einem unzugänglichen Kern der Existenz, aber nicht – wie bei Descartes – im Sinne eines methodisch souverän durchgeführten Gedankenexperiments, sondern als erlebte und erlittene Infragestellung: »In einer Welt, die der namenlosen Freiheit, der verspieltesten Allmacht ohne Gesetz und Regel, ohne Pfand und Gnade ausgeliefert ist, durchdringt die Sorge der Selbstbehauptung das Dasein bis in seine Wurzeln und in seinen Grundbestand.«297
Was später, in Arbeit am Mythos, Absolutismus der Wirklichkeit heißen wird, gibt schon jetzt die Daseinsbewegung als Flucht vor. Das deckt sich mit der Tendenz der ontologischen Distanz, sich etwa in die Logoi zu flüchten, wie es bei Platon über Sokrates heißt, oder eben überhaupt in die absolute Gewissheit, wie es die moderne Wissenschaft methodisch abgesichert anstrebte. Nun ist auch Kafka eine Existenz der Flucht. Doch sie misslingt ihm so sehr, dass er seinem Freund Max Brod vor seinem Tod die Weisung gab, den Großteil seiner Schriften, die die Fluchtursache und -bewegung so eindringlich abbilden, zu vernichten.
Kafkas Vater ist ein absoluter Patriarch mit unmenschlichen Ausmaßen. Er nimmt den Großteil der Welt ein, in der sich Franz bewegt. Doch das ist für Blumenberg »mehr, als ein wirklicher Vater jemals ›bedeuten‹ kann; es ist die Sphäre der Prometheus, Sisyphos, Atlas und Tantalus«.298 Blumenberg hat erneut – wie schon in seiner Habilitationsschrift – den Mythos als einen Ausdruck absoluter Mächte in den Blick bekommen; noch erkennt er in ihm nicht die Anstrengung, diese Mächte nicht heraufzubeschwören, sondern zu bannen. Der Umstand, dass Kafka den frühen Blumenberg so beeindruckte, er im späteren Werk aber lediglich eine momentan aufblitzende Präsenz behaupten konnte, mag eben hierin seinen Grund haben: Blumenberg war zwischenzeitlich jemand anderes in den Blick gekommen, dem seine Flucht vor dem Vater gelungen war: Goethe. Auch an Goethe und dessen zeitweiliger Identifizierung mit Prometheus – darauf wird noch zu sprechen zu kommen sein – macht Blumenberg einen Vater-Sohn-Konflikt aus.299 Mit dem Unterschied, dass Goethe im Gegensatz zu Kafka den Weg ins Eigene fand. Auch dieser Konflikt ist für Blumenberg kein psychoanalytisch zu dechiffrierender. In beiden Fällen lehnt er die »psychische Unterwelt Sigmund Freuds«300 ab, da er eine Untertreibung des Konflikts um jeden Preis zu vermeiden sucht.
Kafka wird von einem Blumenberg gelesen, der eben noch katholische Theologie studiert hat. Daher ist er empfänglich für ein Motiv, das er als ein zentrales im Werk des Autors ausmacht: »Daß wir die Beständigkeit des Seins, eben weil sie so beständig und verlässig ist, auch schon zu besitzen, legitim darüber verfügen zu können glauben, als sei das Nichts ein mythischer Aberglaube – das will Kafka nicht billigen, will er mit immer neu ansetzenden Metaphern erschüttern. Aber wer hier nur nihilistisches Mißtrauen in den Sinn der Welt wahrnehmen möchte, verkennt das Entscheidende, nämlich: daß es Kafka darum geht, die Urhaltung des fassungslos Beschenkten dem Sein gegenüber zu entbinden. Kafka weiß, wie nur wenige in den Jahrhunderten der Neuzeit es wissen, was das Wort ›Gnade‹ bedeutet. Aber er beschreibt sie nicht in Metaphern des Lichtes, in dem sie sich schenkt, sondern in Bildern der Finsternis, in der sie sich verweigert. Die Entbehrung der Gnade ist das unendlich variierte Thema aller seiner Werke, die Ungewißheit, aber nicht die Existenz der Gnade, sondern des Rechtes, an ihr teilzuhaben.«301 Der später vom Glauben Abgefallene wird an Goethe studieren, wie man sich ohne einen Gott in der Welt zu halten vermag.
Der frühe Blumenberg hat sich daher nicht als ein Nihilist begriffen. Nihilismus ist für ihn »ein ›Sturz‹, ein ›Verfall‹ des Wirklichkeitsbewußtseins«, das sich »in Ruhe, in Starre, in Sättigung zu halten sucht«,302 also in Formen der Distanz. Die Philosophie dagegen hat mit einer »Bewegung des Mitvollzugs« den Phänomenen zu folgen und deren Unruhe aufzunehmen: »Es wird deshalb immer eine echte Aufgabe philosophischer Besinnung sein, die in der Kunst und Dichtung bezeugte Erfahrung sorgfältig abzuhören und sich von dem als echtes Zeugnis Erkannten in der Richtung des Denkens, des Ansatzes der Fragen bestimmen zu lassen.«303 Zeit seines Lebens wird Blumenberg immer wieder literarische Quellen in seine philosophischen Überlegungen einbeziehen, da er ihnen das Ausdrucksvermögen jener in Bewegung gehaltenen Ursprünglichkeit zutraut, die er der Philosophie anempfiehlt. Auch deshalb ist sein eigener literaturaffiner Stil nicht schmückende Zugabe. Wo die Philosophie in ihrer bewährten Terminologie zu erstarren droht, sucht er die von der Literatur inspirierte Sprachform, um durch gelungene Wendungen das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben. Sinn und Form sind auch hier nicht trennbar.
Man muss es nicht übertreiben mit der Auslegung von Blumenbergs Kafka-Deutung im Hinblick auf Späteres. Aber es wäre in Blumenbergs Sinne, auch einen letzten Fund anzuführen. »In der Hand habe ich nichts, auf dem Dach ist alles und doch muss ich – so entscheiden es die Kampfverhältnisse und die Lebensnot – das Nichts wählen«,304 schreibt Kafka in seinem Brief. An Blumenbergs ausgezeichnetem Gedächtnis zu zweifeln, verbietet die Art von Philosophie, die er betrieben hat. Nichts spricht also dagegen, Blumenbergs Antwort auf die Frage des Proust-Fragebogens des Magazins der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach dem Lieblingstier als eine Entgegnung auf Kafka zu nehmen: »Die Taube auf dem Dach«.305 Die einsetzende Daseinsausrichtung Blumenbergs, die von der Gnade des unverdienten Seinsbestandes nicht länger abhängig sein will, geht auf das noch nicht Erreichte, auf die Fülle, auf das Ausstehende.
Wenn das Ausstehende aber nicht länger eine Gnadengabe Gottes ist, verdanken sich Stabilität und Reichtum des Lebens allein der Kraft des Menschen. Damit kündigen sich für Blumenberg eine Wende in der Bewertung des Zeitalters und ein Aufbruch aus der Krise an. In einem am 31. Dezember 1952 erschienenen Zeitungsartikel »Plädoyer für diese Zeit. Versuch einer Ehrenrettung für eine schlecht beleumundete Epoche« hebt Blumenberg mit Verwunderung hervor, dass »eine Welt wieder zum Stehen kam«,306 die so tief gefallen war. Das bevorzugte Motto seiner Zeit sollte auch für die folgende Etappe seiner philosophischen Grundlegungen gelten: »Gehen wir an die Arbeit!«307
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