Jürgen Goldstein

Hans Blumenberg


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Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und dass ich also ein solches Nichts für ihn war.«267

      Das »Gefühl der Nichtigkeit«268 reicht bis zu der Vermutung, »dass du mich einfach niederstampfen wirst, dass nichts von mir übrig bleibt«.269 Kleine Gesten der Zuwendung, ein Lächeln etwa, konturierten nur die vorherrschende Kälte und Härte, überschwemmten den Sohn aber mit Gefühlen der Dankbarkeit. »In solchen Zeiten legte man sich hin und weinte vor Glück und weint jetzt wieder, während man es schreibt.«270 Die angedeuteten Zuneigungen scheinen so unverdient, dass Kafka präzise ins Unpersönliche wechselt: ›man‹, nicht ›ich‹, weinte. Es ist eine Existenz der Schuld. In der handschriftlichen Fassung des Briefes ist ›Schuld‹ unterstrichen, als einziges Wort neben der Ortsangabe ›Schelesen‹.271 Kafka sieht sich einem Absolutismus ausgesetzt, der ihn aus Ohnmacht verstummen lässt: »ich verlernte das Reden«.272

      In seinem Leben unternahm Kafka gleich mehrere Fluchtversuche. Der erste zaghafte Vorstoß, der Machtsphäre zu entkommen, war die Ablenkung versprechende Mitarbeit im väterlichen Geschäft für ›Galanteriewaren‹. Es gab viel zu sehen und zu tun, doch der Schatten der Despotie holte Franz ein, als er zusehen musste, wie sein Vater mit den Angestellten umging. Über einen lungenkranken Gehilfen sagte er wiederholt: »Er soll krepieren, der kranke Hund«.273 So wurde auch die Geschäftswelt jenseits des Privaten der Familie zum Einflussreich seines Vaters. Auch die Rettung Kafkas in ein praktiziertes Judentum misslang, da der Vater nur Verachtung dafür zeigte. Der erste ernsthafte Fluchtversuch war das Schreiben. Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs dachte Kafka daran, nach Berlin zu gehen, um dort als freier Autor leben zu können. Doch bis in seine Texte hinein holte ihn die Macht des Vaters ein. »Mein Schreiben handelte von Dir«, bekennt er in seinem Brief, »ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur dass er zwar von Dir erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief.«274 Schließlich schlug auch der Versuch fehl, durch Heirat ein eigenes Leben aufzubauen. An seiner Schwester Elli hatte Kafka beobachtet, wie sie durch Ehe und Kinder »fröhlich, unbekümmert, mutig, freigebig, uneigennützig, hoffnungsvoll«275 wurde. Zwei Mal verlobte sich Kafka mit Felice Bauer und entlobte sich wieder. Im Sommer 1919, im Jahr des Briefes an den Vater, hatte sich Kafka mit Julie Wohryzek verlobt, was der Vater mit der Unterstellung kommentierte, sie habe wohl irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, die seinen Sohn bewogen habe, sie heiraten zu wollen. Es gäbe doch andere Möglichkeiten, er würde seinen Sohn sogar begleiten. »Tiefer gedemütigt hast Du mich mit Worten wohl kaum«, schreibt Kafka über dieses Angebot eines Bordellbesuchs, »und deutlicher mir Deine Verachtung nie gezeigt.«276 Mit dem Scheitern der Verlobung mit Julie Wohryzek endete »der grossartigste und hoffnungsreichste Versuch Dir zu entgehn, entsprechend grossartig war dann allerdings auch das Mißlingen«.277

      Kafka misslang alles, was seinem Vater gelungen zu sein schien. Für diese Diskrepanz der Leistungskraft und der Erfolge findet er im Brief ein Bild, das in seiner ausweglosen Härte einem seiner Romane hätte entsprungen sein können: »Es ist so wie wenn einer fünf niedrige Treppenstufen hinaufzusteigen hat und ein zweiter nur eine Treppenstufe, die aber so hoch ist wie jene fünf zusammen; der Erste wird nicht nur die fünf bewältigen, sondern noch hunderte und tausende weitere, er wird ein grosses und sehr anstrengendes Leben geführt haben, aber keine der Stufen, die er erstiegen hat, wird für ihn eine solche Bedeutung gehabt haben, wie für den Zweiten jene eine, erste, hohe, für alle seine Kräfte unmöglich zu ersteigende Stufe, zu der er nicht hinauf und über die er natürlich auch nicht hinauskommt.«278

      Nicht einmal der eigene Leib bleibt Kafka als Besitz. Als in jedem Sinne enterbter Sohn »wurde mir natürlich auch das Nächste, der eigene Körper unsicher«,279 das Blut, das der Tuberkulosekranke nun ausspuckt, zeigt den Zusammenbruch auch der letzten physischen Bastion an. Eine Aussicht bietet der Brief an den Vater nicht. Mehr zu erlangen ist nicht, als dass er »uns beide ein wenig beruhigen und Leben und Sterben leichter machen kann«.280 Kafka hat den Brief seinem Vater nie ausgehändigt. Er sei doch nichts als das »Rütteln der Fliege an der Leimrute«.281

      Wie ist dieses Dokument eines Lebenskonflikts, dieses Drama zwischen Vater und Sohn zu lesen? Schon Max Brod, der Freund und Nachlassverwalter Kafkas, hat eine naheliegende psychoanalytische Deutung dieses Briefes in ihre Schranken gewiesen, »nicht zuletzt deshalb, weil Kafka selbst diese Theorien gut kannte und sie immer nur als eine sehr ungefähre, rohe, nicht dem Detail oder vielmehr dem wahren Herzschlag des Konflikts gerechtwerdende Beschreibung angesehen hat«.282 Auch Blumenberg weist unmittelbar eine Deutung gemäß der »psychoanalytischen Modewelle«283 zurück. Er meldet Zweifel an, ob es sich um ein getreues Abbild des tatsächlichen Vaters handelt, und er fragt, ob nicht vielmehr eine »Steigerung des Vaters ins Übergroße, ins Mythische«284 vorliege. Auch das deckt sich mit Max Brods Hinweis, Kafka habe »aus dem Erlebnis Gottes … die Vorstellung ›Vater‹ bereichern, erweitern, den Horizont füllen lassen«.285 Finde nicht, so fragt Blumenberg, im beschriebenen Vater »ein Bewußtsein des Absoluten und des ihm Unterworfenseins« seinen Ausdruck, sodass das »Vatererlebnis nur auf dem Grund eines tief verwurzelten Transzendenzbewußtseins möglich und verstehbar«286 wird? »Aus innerer Notwendigkeit heraus, aus dem Leiden an solcher Namenlosigkeit hat Kafka die Leere dieser gottlosen Religiosität ›besetzt‹, zuerst und immer wieder mit dem Vater – der sich dazu freilich sehr gut geeignet haben mag –, später aber auch mit den Bildern und Symbolen seiner Dichtungen.«287

      Damit ist der »Brief an den Vater« der Sphäre des rein privaten Konflikts enthoben und seine Bedeutung weit über den Radius des Biographischen hinausgetrieben. »Der Vater vertritt und verstellt mit seiner gewaltigen Erscheinung das Zentrum eines Welt- und Lebensgefühls, in dem einst die furchtbare Majestät des alttestamentarischen Gottes gestanden hatte und das nun verwaist war.«288 Für Blumenberg ist Kafka daher auch ein Repräsentant jenes Nihilismus, den er als Zeichen seiner Zeit ausmacht. »Das Schicksal einer Epoche, deren Bezug zum Absoluten sich an den überlieferten Gehalten nicht mehr erfüllen zu können scheint, hat hier einen exemplarischen menschlichen Ausdruck gefunden.«289

      Kafkas »Brief an den Vater« hilft dabei, zwei wichtige Aspekte im Werk Blumenbergs genauer zu illustrieren. Auf seine beiden akademischen Qualifikationsschriften zurückblickend, verfügt Kafka für Blumenberg über etwas, was Aristoteles gefehlt hat: die Verwunderungsfähigkeit darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts: »Kafkas Blick, dieser große, staunende, immer weit hinter dem Sichtbaren sich konzentrierende Blick, hängt nicht mehr daran, was und wie die Dinge sind, sondern daran, daß sie überhaupt sind.«290 Blumenberg wird diese Verwunderung in seinem Werk leitmotivisch immer wieder aufrufen. Kafka zeichnet sich mit dieser Empfänglichkeit für die Unselbstverständlichkeit des Seins als ein Autor jener Ursprünglichkeit aus, die Blumenberg in seinem Frühwerk zu beschwören unternommen hat.

      Doch auch in die andere Blickrichtung ist Kafkas Brief von großer Bedeutung, kommen doch Blumenbergs akzentuierende Deutungen einem Wetterleuchten eigener zentraler Philosopheme gleich, die im späteren Werk ihre Entfaltung finden sollten. Schon Kafka hatte in seinem Brief zumindest indirekt die gänzliche Gleichsetzung des von ihm beschriebenen despotischen Herrschers mit seinem leiblichen Vater fragwürdig werden lassen, sei doch die Ohnmacht des Sohnes nicht nur die Folge der Erziehung, wie er eingesteht.291 Ausdrücklich schreibt er seinem Vater, »dass ich niemals im entferntesten an eine Schuld Deinerseits glaube«.292 Der Brief bietet vielmehr einen »Einblick in unser beider Hilflosigkeit«.293 Hermann Kafka ist somit die Verkörperung einer Macht, deren er selbst nicht Herr ist. Er hat vielmehr teil an einem Absolutismus der Macht, der größer ist als er selbst. Doch in kleinerem Maßstab zeigt sich schon im Brief, was auch Gott möglich sein soll: Willkür. Noch hat Blumenberg Wilhelm von Ockham nicht im Blick – dessen Ächtung in der Zeit des Neuthomismus hat verzögert, dass Blumenberg bereits während seiner Mittelalterstudien in Sankt Georgen dessen Rang hätte erkannt haben können –, aber Kafkas Vater bietet bereits eine Illustration dafür, was später in der Legitimität der Neuzeit ›theologischer