»ihre ›Phänomene‹ zu konservieren, als sie zu beschreiben. Sogar wenn sie ihre eigene Geschichte schreibt, beschreibt sie das Hervortreten ihrer ›Phänomene‹, für die es keine andere Präparation gibt als eben diese Geschichte. Und wie das geschieht, ist wiederum eines ihrer ›Phänomene‹.«210 Während die ontologische Distanz auf die Eindeutigkeit des Zugriffs auf zum Gegenstand Gemachtes setzt, lässt eine phänomenologisch beschreibende Philosophie etwas hervortreten, was von der Beschreibungsweise nicht unabhängig gedacht werden kann. Diese Art von Phänomen erscheint und erhellt sich nur in der Beschreibung. Der mitunter vage Gebrauch der Begriffe ›Phänomen‹ und ›Phänomenologie‹ – letzteres nicht im strikten Sinne Husserls – mag seinen Grund darin finden, ein Phänomen nicht zwanghaft zum klar und deutlich abgegrenzten Gegenstand der Erkenntnis machen zu wollen. Damit verbindet sich die aus Einsicht gespeiste Vorsicht, »daß die Phänomene nicht nur Sachen unserer Demonstrationen sind« und der Theorie eine »beliebige und jederzeitige Zugänglichkeit der Gegenstände«211 nicht möglich ist.
Es gibt eine Vagheit des zu Erfassenden, eine Unschärfe des zu Bestimmenden, die ihren Grund in der Sache und nicht in einem Mangel der Methode hat. Es gibt ein »Dämmerlicht …, wo jeder Umriß, jede Andeutung dem Verstehen hilfreich werden kann«.212 Vorsicht gebiete die Erfahrung mit den »dialogtheoretischen Einführungszwängen für Begriffe«, denn immer wieder erweise sich »als eine der Illusionen im Umgang mit Theorien aller Art, daß von dem Bestimmungsgrad der Begriffe, die sie einführen und verwenden, ihre Qualität schlechthin abhinge«, dabei zeige sich doch oft, »daß die Strenge bei der Bildung oder Zulassung von Begriffen eher Sterilität begünstigt als präzisen Fortgang bewirkt«.213 Auch was ›Phänomen‹ sein soll, bedarf daher der behutsamen Beschreibung und sperrt sich gegen die vorschnelle begriffliche Definition. Immerhin gilt: »Was nicht zu ›erklären‹ ist, bleibe lieber im Ungeklärten als im Genügen einer prätendierten Verstandenheit.«214
Ein Mythos hilft hier weiter. In einer der anrührendsten Erzählungen unserer Tradition wird die tragische Geschichte eines Liebespaares erzählt, das sich gleich zweimal verliert. Zuerst trennt der Tod Orpheus und Eurydike, nachdem Eurydike von einer Schlange gebissen wurde. Doch durch die Kunst seines betörenden Gesangs kann Orpheus, der von seiner Geliebten nicht lassen will, die Herrscher der Unterwelt der Toten dazu bewegen, ihm Eurydike zu überlassen. Von seinem Gesang ergriffen, erfüllen sie seinen Wunsch, allerdings unter der Bedingung, er dürfe sich auf dem Weg aus der Unterwelt als Vorangehender nicht nach Eurydike umschauen. Beide haben schon fast die Oberwelt erreicht, als Orpheus nicht mehr an sich halten kann und sich nach seiner Geliebten umwendet, um sich ihrer Gegenwart zu vergewissern. Diesen Tabubruch bezahlt Orpheus mit dem erneuten und endgültigen Verlust Eurydikes. Sie sinkt ohne Wiederkehr zurück in das Dunkel der Unterwelt.
Dieser Mythos lässt sich auch philosophisch lesen, als Erzählung davon, was geschieht, wenn man mitunter Gewissheit zu erzwingen sucht. Dann stellt der Orpheus’sche Blick zurück den Sündenfall eines Denkens dar, das nach Gewissheit verlangt, wo sie nicht zu haben ist. Im Moment der Umkehr wird Orpheus zum Cartesianer, der Klarheit und Eindeutigkeit zu erzwingen sucht, wo allein die Kunst der Beschreibung phänomenerschließend gewesen wäre. Ernst Cassirer, ein äußerst behutsamer Führer aus der Unterwelt des Vorwissenschaftlichen, wusste genau um diese Gefahr des Entgleitens des theoretisch Bedachten. Bei der Bestimmung der Funktion eines vormythischen, eines vorlogischen und eines vorästhetischen Wahrheitsfundaments weist er auf diese Erschließungsproblematik hin, denn es scheint uns »diese Wahrheit um so mehr zu entgleiten, je mehr man sie zu fixieren versucht: d. h., je mehr man sie von vornherein auf ein einzelnes Gebiet ›festlegt‹ und sie ausschließlich mittels der Kategorien desselben bezeichnen und bestimmen will«.215 So leicht es sei, ergänzt Blumenberg, »den ausschließlichen Gebrauch klarer und distinkter Begriffe zu fordern und alles vom Tisch zu wischen, was der Strenge vorgängiger Begriffsklärung nicht genügt, so problematisch ist es, jene vielleicht noch flüchtige und wenig konturierte Gegenständlichkeit zu gefährden, die als Konvergenzpunkt bis dahin verstellter Aspekte aufzuspüren gerade der interdisziplinären Anstrengung obliegen sollte«.216 Und so leicht es ist, methodisches Vorgehen einzufordern, so wenig ist damit gewonnen: »Feststellungen zur Methode erklären ohnehin zumeist nicht viel«,217 heißt es lapidar und abschließend.
Dem literarischen Nihilismus auf der Spur
Hans Blumenberg hat die Bühne der akademischen Publizistik als Stilist betreten. Man übersieht es leicht, denn der Anfang des ersten von ihm veröffentlichten Aufsatzes »Die sprachliche Wirklichkeit der Philosophie«, 1947 im zehnten Heft der Hamburger Akademischen Rundschau erschienen, ist durchaus sperrig.218 Er beginnt mit einem Satzungetüm: »Wer heute im wachen und verantwortlichen Bewußtsein, daß bei der Erwerbung ebenso wie bei der Erweiterung der Erkenntnisse seines Fachgebietes die Fragen einer ersten und allgemeinen Grundlegung unseres Erkennens und unseres Weltverhältnisses überhaupt nicht als unbeachteter und unbearbeiteter Block liegen gelassen werden dürfen, die Bemühung philosophischer Klärung und die Auseinandersetzung mit der bis auf die Gegenwart geleisteten Ausarbeitung dieser Probleme auf sich nimmt, stößt auf einen nicht selten entmutigenden Widerstand, eine Sperrigkeit des philosophischen Gedankengutes, die nur zu häufig von den Entmutigten als Exklusivität oder Esoterik des philosophischen Denkens gedeutet werden.«219 Kein Lektorat, so scheint es, hätte einen solchen Satz durchgehen lassen dürfen. Er ist zu lang, wirkt gestelzt und überfordert die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers. Also ein verkrampfter Anfang? Eine ungelenke Formulierung eines noch gerade mit seiner Dissertation beschäftigten Jungakademikers? Kaum etwas weist auf den späteren großen Stilisten hin, auf den Essayisten und Träger des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa. Dabei führt dieser Eröffnungssatz bis in seine Form hinein präzise vor, was er behauptet: Der sprachliche Duktus der Philosophie – so die gebotene Diagnose – grenzt nicht selten an Unverständlichkeit. Terminologie und Ausdrucksweise erzeugen eine Exklusivität, die den nichtkundigen Leser ausschließt. Die Mühen, die man als Leser mit Blumenbergs erstem veröffentlichten Satz hat, gleichen der Anstrengung, philosophischen Argumentationen zu folgen. Form und Aussage kommen bereits gleich zu Beginn bei Blumenberg zur Deckung.
Sein erster öffentlicher Beitrag fragt nach den Möglichkeiten und Notwendigkeiten philosophischer Sprache. Gegenüber der Kontinuität einer philosophischen Tradition, die trotz grundlegender Wandlungen ihres Denkens kaum begriffliche Neubildungen kenne, hebt Blumenberg die »Eruption begrifflicher Bildungen«220 in neuerer Zeit hervor. Man mag dabei an Heidegger denken, dessen Philosophie von Sein und Zeit – wie sich bereits gezeigt hat – nicht zuletzt ein Sprachereignis darstellt: Die Rede vom ›In-der-Welt-sein‹, vom ›Dasein‹, vom ›Existenzial‹, vom ›Sein zum Tode‹ diene, so Heidegger, der »Auflockerung der verhärteten Tradition«, um den »ursprünglichen Erfahrungen«221 Ausdruck verleihen zu können. Doch Blumenberg kommt in seiner ersten Publikation nicht auf Heidegger zu sprechen, sondern hebt Husserl hervor, dessen deskriptive Phänomenologie durch »Wortbildung Sacherklärung anzuregen« unternehme: Soll das Phänomen also beschrieben und sprachlich erfasst werden, »so kann man auf den Ausgangsbegriff nicht mehr einfach zurückgreifen«, vielmehr werden Ausdrücke, »die zu Beginn der Untersuchung zur Bezeichnung des Phänomens genügen, im Verlaufe derselben ›fließend und vieldeutig‹«.222 Die Trägheit und Schwere einer in ihrer Traditionalität gefangenen Sprache gilt es zu überwinden, um jene Unmittelbarkeit der Erfahrung nicht preiszugeben, die Blumenberg und seine Generation umtreibt.
Nun ist Blumenberg nicht zu einem Schöpfer neuer Begrifflichkeiten geworden. Und die frühe Rede von der ›Ursprünglichkeit‹, die sich im späteren Werk verliert, ist nicht ohne suggestive Kraft. Gelegentlich spricht Blumenberg anfangs auch von »autochthoner Auslegung«223 und vom »autochthonen Phänomen«, von der »originären Bedeutsamkeit« der Geschichte, die in das »lebendig-gegenwärtige Erfahrungsganze«224 hineinreiche. Mit Heidegger gesprochen, denkt Blumenberg eine ›Eigentlichkeit‹ der Geschichtlichkeit, die uns als Geschick ereilt und der wir uns zu stellen haben, wenn wir uns nicht in die ›Uneigentlichkeit‹ eines bloß traditionell durchbuchstabierten Selbstverständnisses flüchten wollen. Die