der nihilistischen Situation, angesehen worden ist«,248 heißt es in einem Vortrag Blumenbergs aus dem Jahr 1950. Die Bedeutung, die der junge Blumenberg Kafka zumisst, steht in keinem Verhältnis zu den überschaubar wenigen Äußerungen, die er über ihn veröffentlicht hat: In einem Vortrag von 1950 »Das Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur der Gegenwart« kommt er auf ihn zu sprechen, in den Düsseldorfer Nachrichten erschien 1952 ein kurzer Zeitungsartikel unter dem Titel »Der absolute Vater«, dessen längere Fassung kurz danach in der katholischen Zeitschrift Hochland abgedruckt wurde. Zum 70. Geburtstag Kafkas am 3. Juli 1953 hat er seiner in dem Zeitungsartikel »Der Antipode des Faust« in den Düsseldorfer Nachrichten gedacht. In späteren Büchern gibt es kein einzelnes Kapitel zu Kafka, keine prägnanten Interpretationen, lediglich eine anderthalbseitige Erwähnung in der Matthäuspassion.249 In Arbeit am Mythos wie auch in den Höhlenausgängen eröffnen Vorsatzzitate Kafkas den jeweils ersten Teil. Erst im Nachlassband Die nackte Wahrheit findet sich ein weiterer, bemerkenswerter Text über ihn von gut drei Seiten. Das alles ist nicht viel.
Kafka hat dem jungen Blumenberg mit der Kraft seiner Sprache den nihilistischen Ton erschlossen, auf den die bis ins Absurde monströsen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gestimmt waren. »Was bei Kafka für das Verständnis des geschichtlichen Phänomens des Nihilismus mit aller Deutlichkeit zutage tritt, ist eben dies, daß der nihilistische Grundvorgang, der Seinszerfall einer ganzen Weltwirklichkeit, ihre Entwirklichung, immer geschieht durch das Ereignis eines sich ankündigenden Absoluten, einer unbedingten Erfahrung, die die gewohnte Welt als Paradox zerbricht.«250 Was hier in philosophisch resümierender Sprache wiedergegeben wird, besitzt bei Kafka die Konkretheit absurder Situationen, in denen die Protagonisten seiner Romane und Erzählungen gefangen sind: So wacht Gregor Samsa in der Erzählung »Die Verwandlung« morgens in seinem Bett auf und sieht sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt. In dem Romanfragment Der Verschollene, unter dem Titel Amerika postum veröffentlicht, wird der 17-jährige Protagonist Karl Roßmann nach Amerika ausgewiesen, nachdem er von einem Dienstmädchen verführt worden ist. In der Fremde muss er es immer wieder erleiden, erneut verstoßen zu werden. In dem Roman Der Prozess verhaftet und verhört man Josef K., Prokurist einer Bank, am Morgen seines dreißigsten Geburtstags – ohne dass er etwas Böses getan hätte. Er darf sich zwar noch frei bewegen, wird aber angeklagt, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Ein ungreifbares Gericht waltet über ihn. Es gibt keine Anklageschrift und nur ins Leere laufende Verteidigungsbemühungen. Einen Tag vor seinem 31. Geburtstag wird Josef K. von zwei Männern abgeholt und in einem Steinbruch wie ein Hund erstochen. In dem Romanfragment Das Schloss trifft der Landvermesser K. bei Dunkelheit und Nebel wie aus dem Nichts in einem winterlichen Dorf ein und übernachtet in einem Wirtshaus. Er sei vom Schlossherrn bestellt, gibt er zur Auskunft. Doch die Bürokratie auf dem Schlossberg ist undurchsichtig, es gelingt K. auch nicht, zum Schloss vorzudringen. Was es mit dem Schloss auf sich hat, bleibt im Dunkeln. Bevor sich etwas klären könnte, bricht der Roman ab.
Kafkas Werk lässt sich nicht auf einen Aspekt reduzieren, und doch zeigt schon die Skizze der Grundrisse einiger seiner Werke an, dass sich die erlebte Ohnmacht aufgrund verborgener, ungreifbarer Mächte als das Trauma von Kafkas Figuren erweist. »Unter allen Dichtern«, hat Elias Canetti resümiert, »ist Kafka der größte Experte der Macht. Er hat sie in jedem ihrer Aspekte erlebt und gestaltet.«251 Blumenberg ergänzt, in seinen Kategorien der ontologischen Distanz, Kafkas Romane drückten die »Erfahrung des Inobjektiven« aus: »Das Wirklichste, nämlich das, wovon unser Schicksal im tiefsten bestimmt wird, ist gleichzeitig am wenigsten objektivierbar.«252 Damit aber scheitert das Projekt der Moderne, Wirklichkeit auf Distanz zu setzen und absolute Erkenntnis zu erlangen. Die Endlichkeit gewinnt Oberhand. »Der Mensch ist das Wesen«, heißt es in dem Vortrag »Die Krise des Faustischen im Werk Franz Kafkas«, »das sich an der Welt erschöpft, das Wesen der Vergeblichkeit.«253 Das Goethe-Jahr zum zweihundertsten Geburtstag des Dichters war kaum vergangen, als Blumenberg Kafka als Antipoden des Faust vorstellte: »In Kafkas apokalyptischen Bildern geht das Zeitalter zu Ende, dessen Selbstbewußtsein sich im Symbol der Faustgestalt wiederfand.«254
Damit nicht genug. Als 1952 aus dem Nachlass der Abdruck eines in seiner handschriftlichen Fassung hundertseitigen Briefes von Kafka an seinen Vater aus dem Jahr 1919 der Öffentlichkeit übergeben wurde, zeigte sich Blumenberg überwältigt: »Dies ist wirklich eines der wesentlichen Dokumente menschlicher Existenz überhaupt!«,255 schreibt er mit selten verwendetem Ausrufezeichen. Noch heute, aus der Distanz von hundert Jahren, beeindruckt der Brief als Selbstanalyse eines schonungslos offengelegten Daseinskonflikts. Es lohnt, einen ausführlichen Blick auf diese Selbstoffenbarung und Blumenbergs Deutung zu werfen, da dieses umfangreichste autobiographische Schriftstück Kafkas Blumenberg dazu dient, sich über wesentliche Motive seiner später entfalteten Philosophie klar zu werden. Seine Kommentare gleichen einem Vorecho auf Kommendes.
»Liebster Vater«, beginnt Kafka seinen Brief, »Du hast mich letzthin einmal gefragt warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wusste Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als dass ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte.«256 Der Brief ist Teil einer Suchbewegung, Worte für jene Furcht zu finden, die ihn verstummen lässt.
Schon das Nebeneinander von Vater und Sohn fiel zu Ungunsten des Kindes aus. Hermann Kafka, zur Zeit der Niederschrift des Briefes 67 Jahre alt, stellt für den Sohn den Inbegriff an »Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis«257 und so fort dar, Franz dagegen war schon als Kind lediglich »ein kleines Gerippe«.258 Der physischen Übermacht des Vaters folgte der Anspruch, die Regeln diktieren zu können. Die Kindheit des Sohnes unter dem Kommando des Vaters war damit vorgezeichnet: »In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt.«259
Der Vater herrschte mit strenger Hand und als ein Despot, unbekümmert von seiner eigenen Willkür, die bis zur Widersprüchlichkeit reichte. Er hielt sich, etwa bei Tisch, nicht an die Gebote, die er selbst erließ. Seine Macht schien daher geprägt durch »das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben«.260 Uneinschätzbarkeit ist das Kennzeichen dieser Macht. Auch der junge Franz vergriff sich mitunter im Ton. »Du aber schlugst mit Deinen Worten ohne weiters los«,261 ohne Reue und Zurücknahme. Beistand von der Mutter kam nicht. Für sie, für das Kind das »Urbild der Vernunft«, findet er die Wendung, sie habe die »Rolle eines Treibers in der Jagd«262 eingenommen und ihn somit dem Vater ausgesetzt und zugeführt, anstatt ihn zu schützen. »Dadurch wurde die Welt für mich in drei Teile geteilt, in einen, wo ich, der Sklave lebte, unter Gesetzen, die nur für mich erfunden waren und denen ich überdies, ich wusste nicht warum, niemals völlig entsprechen konnte, dann in eine zweite Welt, die unendlich von meiner entfernt war, in der Du lebtest, beschäftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben der Befehle und dem Ärger wegen deren Nichtbefolgung, und schliesslich in eine dritte Welt, wo die übrigen Leute glücklich und frei von Befehlen und Gehorchen lebten.«263
Zur Macht gehört die Strafe. Kafka findet sich vor seinem Vater in einem »Proceß, in dem Du immerfort Richter zu sein behauptest«.264 Die Strafen sind erdrückend, auch ohne Schläge. »Es ist auch wahr, dass Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne war für mich fast ärger. Es ist, wie wenn einer gehenkt werden soll. Wird er wirklich gehenkt, dann ist er tot und es ist alles vorüber. Wenn er aber alle Vorbereitungen zum Gehenktwerden miterleben muss und erst wenn ihm die Schlinge vor dem Gesicht hängt, von seiner Begnadigung erfährt, so kann er sein Leben lang daran zu leiden haben.«265
Zu den Schlüsselszenen des Briefes gehört eine nächtliche Bestrafung, die sich Kafka eingebrannt hat. »Ich winselte einmal in der Nacht immerfort um Wasser, gewiss nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich zu unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen nicht geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche«, ein umlaufender Balkon von Häusern zum Innenhof, »und liessest