Jürgen Goldstein

Hans Blumenberg


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der Sprachnot nicht zu erliegen, hat sich Blumenberg der Literatur anvertraut, zuerst als Leser, dann als Rezensent und Essayist. In etlichen Vorträgen, deren Manuskripte erhalten geblieben sind, und in Feuilletonbeiträgen unter anderem für die Düsseldorfer Nachrichten und die Bremer Nachrichten hat Blumenberg – zum Teil unter dem Pseudonym ›Axel Colly‹ – sich mit der Literatur von Jean-Paul Sartre, Ernst Jünger, Paul Claudel, Graham Greene, Hans Fallada, Aldous Huxley, Jules Verne, William Faulkner, Henry James, Marcel Proust, Ernest Hemingway, Thomas Mann und anderen auseinandergesetzt. In kleinen Beiträgen, in denen er etwa der Zeitnot der Studenten nachgeht, nach der medizinischen Auswirkung von Kopfschmerztabletten, Schlafmitteln und Vitaminpräparaten fragt, sich zur Mode der neuen Taschenbücher und der Comics äußert, an den 750. Todestag von Moses Maimonides und an den 200. Jahrestag des Erdbebens von Lissabon erinnert, übt sich früh der Essayist. Ein Teil dieser Aufsätze, Rezensionen und journalistischen Fingerübungen sind inzwischen veröffentlicht.225 Sie erlauben einen Einblick in die Versuche des jungen Blumenberg, »dem Repräsentativen« seiner Welt »auf die Spur zu kommen«,226 wie es in einem Brief an Alfons Neukirchen von der Feuilleton-Redaktion der Düsseldorfer Nachrichten heißt.

      Die philosophischeren Gegenwartsanalysen dieser schriftstellerischen Miniaturen laufen unter einem Stichwort, das inzwischen die Patina einer verblassten Emphase angenommen hat, aber seinerzeit als Fluchtpunkt der Selbstverständigungen auszumachen ist: ›Nihilismus‹. »Jede geschichtliche Epoche«, führt Blumenberg dazu aus, »steht auf einem Boden von Gewißheit, der für sie fraglos und selbstverständlich gültig ist und von dem her alles Wirkliche, Echte, Verbindliche als solches seinen Bestand hat. Treten nun aber im Zentrum des Bewußtseins Erfahrungen auf, die sich mit dem bis dahin fraglosen nicht vereinigen lassen, so kommt es zu einer Krise der fundamentalen Wirklichkeitsgewißheit, und diese Krise wird um so umfassender und akuter sein, je bedrängender und unabweisbarer jene Erfahrungen sind. ›Nihilismus‹ ist der Name der universalen und radikalen Krise der Gewißheit überhaupt.«227 Insofern für den jungen Blumenberg die Neuzeit als Epoche mit dem Willen zu absoluter, methodisch-wissenschaftlich abgesicherter Gewissheit identisch war, ist mit dem Scheitern dieses Projekts die Epoche selbst fragwürdig geworden. Es gibt keinen tragenden geschichtlichen Boden mehr, auf dem sicher zu stehen man voraussetzen kann. Die Destruktion eines geschichtlich vermittelten Selbstverständnisses teilt Blumenberg mit seiner Generation: »Das Mark des elementaren Selbstvertrauens ist uns angefault.«228

      In der expressiven Kraft der Literatur findet Blumenberg, was er in der Philosophie vermisst. Für ein Verstehen von Wirklichkeit, das die »ruinanten Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts« aufzufangen habe, biete die »moderne Kunst und Dichtung die adäquatesten Ansätze; sie ist der philosophischen Analyse fast überall weit vorausgeeilt und hat Phänomene und Probleme sichtbar gemacht, an die sich das Denken nur allmählich heranzutasten vermag«.229 Ich möchte den Einfluss der Literatur auf den jungen Blumenberg an zwei Beispielen schlaglichtartig beleuchten. Aus der Fülle der Lektüren und Besprechungen ragen zwei Autoren heraus: Ernst Jünger und Franz Kafka.

      Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen, 1939 erschienen, ist ein prägnantes Beispiel für die ungeheure Wirkung, die literarische Werke auf Blumenberg zu haben vermochten, wenn sie die Unfasslichkeit geschichtlicher Situationen zu erschließen halfen. Schon die Anstöße, die Jünger bewogen, Auf den Marmorklippen zu verfassen, haben etwas Romanhaftes: Er war zu dem Buch durch zwei Ereignisse angeregt worden: Heinrich von Trott zu Solz hatte ihn im Spätsommer 1938 besucht und den vergeblichen Versuch unternommen, Jünger und dessen Bruder für den Widerstand gegen Hitler zu gewinnen; und bei anderer Gelegenheit hatte Jünger nach einem rauschhaften Gelage im Wachtraum ein flammendes Inferno ausgebombter Städte als Vision der Zukunft phantasiert.230 Jünger erzählt in seinem daraufhin verfassten Roman mit Schwermut von einer gerade erst vergangenen Zeit, deren Glück von dem sich ausbreitenden Terror verdrängt worden ist, einer rohen Gewalt, die vom ›Oberförster‹ angeführt wird. Gegen die Diktatur erhebt sich ein Aufstand, der jedoch scheitert. Wichtiger als Einzelheiten der Handlungen sind hier die Bilder, die Jünger dem Leser als Abbild der Zustände im Dritten Reich angeboten hat. Man hatte nicht für möglich gehalten, dass derlei überhaupt im Jahr 1939 publizierbar war. Zum Eindringlichsten des Romans gehört die Schilderung der Barbareien bei ›Köppelsbleek‹, was soviel heißt wie ›Schädelsbleiche‹, von Zeitgenossen aber oft – mit Blick auf Joseph Goebbels – auch als ›Goebbelsbleek‹ gelesen wurde. Jünger beschreibt einen Kahlschlag im Wald, der zu einer »Stätte der Unterdrückung«231 geworden ist. Über dem Scheunentor eines dort befindlichen Gebäudes prangt ein festgenagelter Schädel, und ein ›Männlein‹, ein Liedchen pfeifend, ist damit beschäftigt, Menschenleiber auszubeinen. Diese Unorte sind die »Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannis sich erheben und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich kräuseln sieht: Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle Ewigkeit verworfener Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt«.232 Dolf Sternberger hat später davon berichtet, wie diese Schilderung der Welt der Konzentrationslager und des Geheimterrors auf ihn wirkte: »In Chiffren war unseren elenden Beherrschern das Urteil gesprochen. Man rieb sich die Augen, es schien fast unglaublich, daß dergleichen möglich war.«233

      Es gehört, wie bereits erwähnt, zu den Ungeheuerlichkeiten von Jüngers Buch, dass es überhaupt erscheinen konnte und der Autor unbehelligt blieb. Hitler, heißt es, habe seine schützende Hand über den Autor der kriegsverherrlichenden Schrift In Stahlgewittern gehalten.234 »Auf den Marmorklippen«, erinnert sich Blumenberg, »hatte für die Zeitgenossen und in deren Erinnerung seine Einzigartigkeit über allen Inhalt und erst recht über alle Absichten des Autors hinaus durch den Zeitpunkt seines Erscheinens. Niemand, der es 1939 las, wird über den Zweifeln am Nachfolgenden aus derselben Feder die Präzision vergessen haben, mit der Ernst Jünger den ›Zeitpunkt‹ traf, der dieser Bilder bedurfte.«235 Blumenberg hat später ambivalent über Jünger geurteilt. So umstritten die geistige Haltung und der literarische Rang Jüngers auch seien, das Werk sei von »einzigartiger Prägung«.236 Jünger sei der »bedeutendste deutsche Tagebuchschreiber«237 des 20. Jahrhunderts, auch wenn er von Unsicherheiten im Geschmack heimgesucht werde, was stilistisch dem Leser noch zugemutet werden dürfe.238 Zwar sei Jünger »oft ein erleuchteter Aufspürer von Analogien in Ober- und Unterwelten, in entfernten Kulturen und distanten Epochen«,239 seine Schwäche aber seien die Differenzen. Er liebe die Metapher, ohne die Kraft zu ihr zu besitzen.240 Er sei oftmals »mit barometrischer Sensibilität der Realität voraus«241 gewesen, auch wenn er zu einem »zuweilen unangenehm raffinierten Platonismus«242 neige. Seine späten Reisenotizen gehören für Blumenberg zum »Kostbarsten der Gattung«.243 Vor allem aber ragen die Marmorklippen als Jüngers »bedeutendstes Werk« und »fast … vollendete Dichtung«244 mit den Bildern von Terror und Gewalt, Blut und Verwesung, Mord und Brand, aber auch Widerstand heraus. Für Blumenberg ist Jünger ein Autor, der der »Vernichtung unserer alten Welt«245 nachgespürt und ihr Ausdruck verliehen habe, dem Nichts und somit dem Nihilismus, aber auch der Selbstbewahrung. Die in den Marmorklippen geschilderte Schinderwelt des Terrors von Köppelsbleek sei »nihilistische Anarchie«.246 Dafür einen Ausdruck gefunden zu haben, ist schon Selbstbehauptung gegen die drohende Sprachlosigkeit. Auch wenn der Terror dadurch nicht abgewendet werden konnte, ist die gelungene Sprachfindung nicht nichts. Die Marmorklippen zeichnen sich für Blumenberg daher »durch den Zeitpunkt des von ihnen gespendeten Trostes«247 aus. Auf die Ungeheuerlichkeit einer zeitgeschichtlichen Ursprünglichkeitserfahrung, den Einbruch des Terrors in unvorstellbarem Maße, hatte Jünger mit einem Buch reagiert, das so ursprünglich erschien wie das Geschilderte.

      Während sich in Blumenbergs Promotionsschrift einzelne Passagen im Duktus der Sprache Heideggers als Versuche lesen lassen, Erfahrungen des Dritten Reichs zu artikulieren, steigerte bereits die Habilitationsschrift die Krise der Gegenwart in einen epochalen Maßstab. Das findet sich auch bei den Lektüren wieder. Mag Jünger der Autor der Stunde gewesen sein, ist es Franz Kafka, dem Blumenberg eine grundsätzlichere Gegenwartsanalyse verdankt: »Unter den deutschen Schriftstellern dieses Jahrhunderts