ist jeder Sicht unverfügbar.«141
Die spätantike Gnosis ist nicht der einzige metakinetische Einbruch in die vermeintliche Kontinuität der Geschichte als Tradition. Auch die christliche Religion stellte eine Unterbrechung der vergewisserten Homogenität der Weltordnung und des Geschichtsverlaufs dar. Von der Ursprünglichkeit der Erfahrung eines personalen Schöpfers war schon in der Doktorarbeit die Rede, nun nimmt Blumenberg diesen Aspekt erneut auf: »›Notwendigkeit‹ als Struktur des logischen Denkens ist … die reine und exemplarische Weise metaphysischer Gewißheitsbildung. Dagegen geht das christliche Weltverständnis von der Wahrheit eines personalen, willentlichen und freien Grundes aus, in dem das Seiende nicht nur faktisch entspringt, sondern auch faktisch in seinem Bestand ›gehalten‹ ist. Das Verhältnis von Gott und Welt kann also nicht mehr als notwendiger ›Zusammenhang‹ verstanden werden.«142 Trotz aller unternommenen Vermittlungsversuche von christlichem und antik-philosophischem Denken – wie sie für Blumenberg idealtypisch von Thomas von Aquin erprobt wurden –, lassen sich Unmittelbarkeitserfahrungen von Sünde, Bekehrung und Gnade nicht beliebig intellektualisieren. Gerade der mittelalterliche Wille zur Kontinuität treibt in Gestalt der scheiternden Synthese von heidnischem Griechentum und Christentum den Bruch hervor, dem die Neuzeit entspringen wird. »Es ist die Spannung zwischen Innerlichkeit und kosmischem Denken, zwischen Ergriffenheit und Logos, zwischen ›amor Dei‹ im augustinischen Sinne und Theologie als Wissenschaft, zwischen substanzialem Seinsverständnis und Faktizitätserfahrung, zwischen gläubiger Entschiedenheit und theoretischer Distanz.«143 Schon in der Habilitationsschrift hat sich Blumenberg den systematischen Entwurf einer Deutung der Entstehung der Neuzeit zurechtgelegt, den er später mit ungleich mehr Aufwand an Quellen ausfüllen wird.
Im Zentrum dieses Entwurfs, wie die Neuzeit auf den Weg gekommen sein mag, steht der allmächtige Gott. Für die einsetzende Lust an den ungehemmten Spekulationen über die göttliche Machtfülle steht ein Verurteilungsdokument aus dem Jahr 1277, das jenseits mediaevistischer Kenntnisse kaum bekannt, für Blumenberg aber von überragender Bedeutung ist. Hier erfährt es eine erste Erwähnung: Der Pariser Bischof Tempier hat 219 aristotelisch inspirierte Thesen als falsch verurteilt, von denen er annahm, sie würden an der Pariser Universität gelehrt. Mit diesem Verurteilungsdekret wurden die »Fliehkräfte der antik-christlichen ›Synthese‹«144 offenbar. Dieses Aufkündigungszeugnis der vermeintlichen Harmonie von christlicher Theologie und antikaristotelischer Philosophie ist für Blumenberg ein Schlüsseltext, um die Dynamik des späten Mittelalters zu verstehen – im Rahmen der Legitimität der Neuzeit wird darauf zurückzukommen sein. Hier genügt die Einsicht, dass sich der Ausgang des Mittelalters in dem umfassenden Sinne charakterisieren lässt als das »Heraustreten der Gewißheitsfrage aus ihrer geschichtlichen ›Implikation‹«.145
Denn der allmächtige Gott zerstört – in der Lesart Blumenbergs – jeden rationalen Gewissheitsanspruch des Menschen. Schon in seiner Habilitationsschrift formuliert Blumenberg seine Sicht auf den mittelalterlichen Willkürgott: »Die Souveränität Gottes kann quer durch alle rationalen Sicherheiten und Wertungen hindurchgehen und darin die Möglichkeiten menschlicher Gewißheit vernichten.«146 Da Blumenberg, wie schon in der Doktorarbeit, den entscheidenden Autor des 14. Jahrhunderts, Wilhelm von Ockham, aus mangelnder Kenntnis noch nicht einzubeziehen vermag, illustriert er hier noch an Luther die belanglos gewordene Seinsgewissheit angesichts der unwägbaren Heilsgewissheit. Gegen diese Zumutung, die rationalen Konstanten durchkreuzt zu sehen, formiert sich die Neuzeit mit ihrem erneuerten und verschärften Gewissheitsanspruch, den Blumenberg idealtypisch an Descartes festmacht.
Und dieser erneuerte Gewissheitsanspruch stellt eine Bekräftigung der ontologischen Distanz dar. Was schon in der Antike einsetzte, gewinnt nun an Unbedingtheit und kann auf die Formel gebracht werden: Die ontologische Distanz ist eine Flucht in die Gewissheit. »Die Energien des modernen wissenschaftlichen und kritischen Denkens entstammen dem spannungsschaffenden Gefälle zwischen dem Stand der verlorenen Gewißheit und der idealen Forderung, die ihr Maß unreflektiert dem Verlorenen entnimmt und es in unendlicher Leistung der Erkenntnis zu überbieten aufgibt.«147 Der Anspruch der cartesischen Rationalität, die Gewissheit der Erkenntnis absichern zu wollen und zu können, entspringt somit der spätmittelalterlichen Infragestellung der ontologischen Distanz. Die Neuzeit ist weder die Fortsetzung des Mittelalters mit anderen Mitteln noch seine kontinuierliche Weiterentwicklung, sondern dessen Widerspruch. Dafür hat Blumenberg jene Formel gefunden, die in der Legitimität der Neuzeit prominent herausgestellt werden wird: Die cartesische Philosophie mit ihrem Programm abgesicherter Gewissheit ist der Form nach »nicht die der Selbstbestimmung, sondern der Selbstbehauptung«.148 Die »Selbstbehauptung der Vernunft vor der Gewißheitsfrage«149 wird zum Initialmoment der Neuzeit.
Wenn Blumenberg in diesem Zusammenhang vom Programm der Aufklärung spricht, geht es ihm dabei nicht vorrangig um eine »anthropologische, ethische oder ästhetische Kategorie, ein Ideal der Haltung, Bildung, Moral oder Politik«,150 also um all das nicht, was gemeinhin mit der Epoche und dem ihr entsprungenen Projekt einer sittlichen Vernunft verbunden wird. Aufklärung ist für ihn der wissenschaftlich sich realisierende Wille zur Gewissheit. In diesem Sinne hat Husserl seine Phänomenologie als den Inbegriff des Anspruchs verstanden, das cartesische Gewissheitsprogramm zu vollenden. Dieser Gedankengang ist mit Blick auf die moderne Wissenschaftsgeschichte ungemein eng geführt und reizt zum Widerspruch, deckt sich aber mit Husserls Verständnis der Phänomenologie als Erfüllung eines im engeren Sinne neuzeitlichen, im weiteren Sinne menschheitlichen Willens zur ontologischen Distanz.
Mit der Vollendung oder dem Scheitern dieser Art von Aufklärung steht die Neuzeit als Epoche auf dem Spiel. Eine geschichtliche Epoche ist die »Einheit einer Gegenwart als Einheit eines Sinnes«.151 Blumenberg blendet politische, moralphilosophische, wirtschaftliche, soziale, kunstgeschichtliche Facetten aus, um den Willen zur Wissenschaft zum Leitfaden der Modernität zu machen. Die neuzeitliche Wissenschaft ist »die – zwar unendliche, aber doch sich verwirklichende – Aufhebung der Sorge des Menschen um seine Gewißheit in wissende Souveränität«.152 Es gibt somit nicht allein existenziell-biographische Momente des ursprünglichen Erfahrens und Reflektierens von geschichtlicher Geschichtlichkeit, es geht auch eine Nummer größer, ist doch die Neuzeit insgesamt eine der »Manifestationen epochaler Ursprünglichkeit«.153 Die Neuzeit als Einheit eines Sinns ist gleichsam eine zu bedenkende ›Situation‹ und Gegenwart. Diese Einsicht wird für den Radius der Gegenwartsanalysen Blumenbergs bestimmend bleiben: Seine großen und weit ausholenden Neuzeitstudien, wie etwa die Genesis der kopernikanischen Welt, sind in diesem Sinne als Epochenvergewisserungen Gegenwartsanalysen. Blumenberg rechnet hier nicht in Jahren oder Jahrzehnten, sondern in Jahrhunderten.
Descartes hatte den spätmittelalterlichen Verunsicherungen eine Erkennntnisgewissheit entgegenzustellen gesucht, die im ersten Schritt in der Unerschütterlichkeit des cogito besteht: Mag mich täuschen wer will, immer dann, wenn ich denke, bin ich mir sicher, dass ich bin. Diese Selbstsicherheit ist nicht täuschbar. Für Descartes bedurfte es dann im nächsten Schritt des Gottesbeweises, um den gütigen Gott als Garanten weiterer verlässlicher Wissensbestände voraussetzen zu können. Damit hatte Descartes für Husserl ein Reich absoluter Gewissheit eröffnet – und gleich wieder verspielt, da er sich nicht auf die Sphäre des Bewusstseins beschränkt hat. Die Phänomenologie wird das zu korrigieren suchen, ist ihr das Bewusstsein doch die einzig mögliche Sphäre unbedingter Gewissheitsbildung.
Blumenberg erläutert ausführlich an Theoriemomenten der Phänomenologie, inwiefern sie die Vollendung der ontologischen Distanz zu sein beansprucht. Insbesondere die ›transzendentale Reduktion‹ suche das reine Bewusstsein zu verwirklichen, abzüglich aller naturhaften Bestimmungen des Ich und seiner Individualität. Worauf es hier allein ankommt: Mit dem Entwurf der Phänomenologie wird die ursprüngliche Geschichtlichkeitserfahrung des Menschen preisgegeben, denn die »transzendentale Subjektivität … bietet ein ›phantastisch idealisiertes Subjekt‹, zu dem man nur gelangen kann, wenn man von vornherein die Faktizität des Daseins ausschaltet«.154 Aufklärung als der Wille zur Verwirklichung absoluter Gewissheit ist eben »wesentlich Aufstand und Behauptung gegen die Geschichtlichkeit des Daseins«.155 Blumenberg dagegen fragt, was es dem Menschen noch bedeuten