Jürgen Goldstein

Hans Blumenberg


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Einleitung

      Der Zettelkasten

      Selten hat eine bedeutende Philosophie ein derart sinnlich zugängliches Fundament aufzuweisen, wie es bei Hans Blumenberg der Fall ist: Seine Werke, die Tausende von Seiten füllen, ruhen auf dem Grund von Abertausenden von Zetteln. Genauer gesagt handelt es sich um Karteikarten, mit handschriftlichen und auf Schreibmaschine getippten Zitaten, mit und ohne Kommentar versehen, um Karten mit aufgeklebten Ausschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften und gefüllt mit eigenen Reflexionen. Sie stellen Dokumente einer über Jahrzehnte ununterbrochenen Lektüre- und Denktätigkeit dar und begründen ein akribisch gepflegtes Stichwortarchiv, das für die schriftstellerische Produktivität seines Nutzers nahezu unentbehrlich war.

      Für die Ordnung der Karteikarten verwendete Blumenberg einen Rollenstempel. Die fortlaufende Nummerierung machte eine Chronologie seiner quellengeleiteten Gedankengänge über mehr als vierzig Jahre unmittelbar nachvollziehbar, wäre die numerische Ordnung des Zettelkastens von seinem Nutzer nicht zugunsten der kreativen Zusammenstellung der Karteien zu Themengruppen preisgegeben worden. Für seine Schreibprojekte entnahm Blumenberg einzelne Karten ihrer Entstehungsordnung, stellte sie zu thematischen Einheiten zusammen und versah sie mit Siglen – etwa ›AMY‹ für Arbeit am Mythos –, um aus diesen Neugruppierungen Texte und ganze Bücher erwachsen zu lassen. Jede derart genutzte Karteikarte wurde mit drei roten Schrägstrichen an der oberen rechten Ecke markiert und auf der Rückseite mit einem Vermerk zum Einsatzort des Exzerpts versehen. Eine zu häufige Verwendung und somit penetrante Wiederholung von Schlüsselfundstücken und Lieblingszitaten schloss Blumenberg aus, da er nach mehrfachem Gebrauch ganze Stapel an Karteikarten aussortierte und sorgfältig in Papier oder in Umschläge verpackte.

      Blumenberg hat um 1941 mit der Erstellung von Karteikarten begonnen. Die erste Sammlung wurde Opfer eines Luftangriffs während des Zweiten Weltkrieges – später hat Blumenberg sein wertvolles Archiv einem feuerfesten Tresorschrank anvertraut. Über den jährlichen Zuwachs, die Gesamtzahl der Karteikarten und deren Verwendung legte sich Blumenberg penibel Rechenschaft ab. Am 1. August 1945 konnte er als Beleg des Neuanfangs 280 Karteikarten verzeichnen. Nicht ohne Stolz über seine erfolgreiche Arbeit im Bergwerk der Denkgeschichte präsentierte er im Frühjahr 1966 die zehntausendste Karte seinem langjährigen Mitarbeiter Karl-Heinz Gerschmann. Auch andere Autoren haben sich vor dem Aufkommen digitaler Speichermöglichkeiten des Systems über die Jahrzehnte angelegter Zettelkästen bedient – Niklas Luhmanns Zettelkasten ist legendär. Blumenbergs handgreifliche Gedankeninseln sind daher durchaus zeittypisch und an sich nicht ungewöhnlich. Der Umfang aber schon: Am 24. April 1984, im Jahr von Blumenbergs Emeritierung, beherbergten die Zettelkästen 24 000 nummerierte Karteikarten. Insgesamt enthält der Zettelkasten etwa 30 000 Exzerpte und Überlegungen.1

      Der philosophische Reiz eines derartigen Gedankenarchivs besteht in der ermöglichten Variabilität seiner Bedeutungsfundstücke. Erst die Isolation eines Zitats von seinem ursprünglichen Kontext im Textfluss des Werkes, dem es entnommen worden ist, eröffnet das Spiel der überraschenden Kombination. Durs Grünbein hat mit Blick auf seine Poetik einmal von den »kleinen Entladungen« gesprochen, »die aus der Reibung gewisser elektrostatischer Wörter folgen«.2 Dieser Reiz, in einer Verszeile lustvoll Unerwartetes nebeneinanderzustellen, findet sich offensichtlich auch in Blumenbergs Umgang mit in Zitaten verdichteten Gedanken wieder: Wenn ein gegenwärtiger Autor mit einem mittelalterlichen Kollegen ›kurzgeschlossen‹ wird, wenn Husserl auf Platon trifft, eine Gedichtzeile auf ein Traktat, dann kann sich ein Funkenflug der Vernunft einstellen. In diesem Sinne gleicht die Arbeit mit einem umfangreichen Zettelkasten einer Alchemie des Geistigen: Die ungewohnte Zusammenstellung steigert das Herbeizitierte gegenseitig, verwandelt und wiederbelebt die Gedankenfunde. Eine solche Kombinatorik setzt eine Lust am Überraschungsmoment, ein sehr gutes Gedächtnis und eine Meisterschaft in der Zusammenführung des auf den ersten Blick oftmals heterogenen Quellenmaterials voraus.

      Der souveräne Umgang mit Zehntausenden von Reflexionsinseln, die sich erst in der erzeugten neuen Textur als archipelartig und somit untergründig miteinander verbunden offenbaren, macht einen Teil dessen aus, was an Blumenbergs Texten so fasziniert: Mit Kommentaren und Verweisen von Hand ausgestattet, ermöglichten es die Karteikarten ihrem Nutzer, traditionsgesättigte Werke zu verfassen, in denen oftmals Zitate unterschiedlichster Herkunft aus entlegensten Winkeln der abendländischen Denkhistorie zu einer überraschenden problemgeschichtlichen Nachbarschaft gefunden haben. So werden Autoren und deren Texte im wechselvollen Nacheinander gruppiert: Schlägt man ein beliebiges Kapitel in einem Buch von Blumenberg auf, etwa »Apokalypse und Paradies« aus Lebenszeit und Weltzeit, weisen die Fußnoten die Apokalypse des Johannes, Jean Paul, Irenäus von Lyon, Michel de Montaigne und Arthur Schopenhauer als herangezogene Referenzquellen aus. Blumenberg denkt zusammen, was zusammengehört, aber durch Jahrhunderte, mitunter Jahrtausende voneinander getrennt ist. Darauf muss man erst einmal kommen, das biblische Motiv vom ›Buch des Lebens‹, in dem im Himmel die Taten der Menschen und ihr Heilsstatus verzeichnet werden, innerhalb weniger Seiten mit der Autobiographie von Jean-Jacques Rousseau in Beziehung zu setzen, schrieb doch der Genfer mit seinen Confessions selbst das Buch seines Lebens, um Rechenschaft abzulegen von seinen Taten.3

      In der Stiftung einer Gedankenbrücke von der einen zur anderen Sinnfigur, vom einen zum anderen Zitat, beglaubigt sich die Souveränität des Zettelkastennutzers gegenüber seinem unermesslich scheinenden Material. Je rigider der methodische Zwang der Quellenarbeit ist, desto freier hat der denkerische Zugriff auf das Archiv zu sein, wenn das philosophische Denken nicht der Fülle an Zitierbarem erliegen und verkümmern soll. Doch wie frei darf der Umgang mit dem mitunter weit Auseinanderliegenden werden, damit den intellektuellen Edelsteinen, von ihren jeweiligen Horizonten und Kontexten gereinigt, keine Gewalt angetan wird, wenn sie in ein neues gedankliches Mosaik eingefügt werden?

      Um Gefahr und Herausforderung ermessen zu können, die der philosophische Umgang mit Zehntausenden von isolierten Zitaten bedeuten, ist man gut beraten, bei der Bezeichnung ›Zettelkasten‹ zu bleiben, anstatt von ›Karteikasten‹ zu sprechen, auch wenn Blumenbergs Archivsystem aus Karteikarten besteht. Zettel und Karteien hängen ohnehin zusammen: In der antiken Welt bezeichnete das lateinische Wort scida oder scheda ein Stück, das man für Notizen von einem Papyrusblatt abriss, von flüchtiger Dauer, der Vorläufer des ›Zettels‹; die charta, aus der die ›Kartei‹ wurde, bezeichnete ein Papyrusblatt und ein Stückchen Papier für rasche Aufzeichnungen. Die Kartei als Informationsträger eroberte sich erst in den großen Bibliotheken der Moderne mit ihren vordigitalen Archivsystemen durch ihre Dauerhaftigkeit und den Vorzug der normierten Größe die Stellung des bevorzugten Formats. Bleibt man also beim Zettel als Hauptbegriff, bekommt die Gefahr des sich ›Verzettelns‹ einen Namen. Dieser Begriff entstammt ursprünglich dem Weberhandwerk: Der Weber arbeitet mit Kettfäden, auch Zettel genannt, um für das Gewebe eine Längsrichtung vorzugeben, zu der die Schussfäden quer eingeführt werden. Wer sich also verzettelt, kommt mit dem Gewirr an Fäden nicht mehr klar. Die Nähe zum Versinken in einer Unmenge an Notizen liegt auf der Hand. Für das aus den Zettelkästen Zusammengestellte besteht, wie Blumenberg es einmal formuliert hat, gleichermaßen die Gefahr, »wertvoll vom Gesichtspunkt der Materialsammlung, aber hilflos in der Interpretation«4 zu sein – die Anforderung an die deutende Interpretation wächst mit dem zu bewältigenden Quellenreichtum. Wie aber kann aus einer Zettelwirtschaft, trotz aller Verweissysteme und Übersichten, ein Textgewebe hervorgehen, das durch einen Erzählstrang zusammengehalten wird?

      Ein weiterer Fallstrick beim Verzetteln der Tradition liegt in der Verwandlung des Lesers in einen Zitatenjäger. Da Blumenberg genauestens notiert hat, was er wann gelesen hat, werden auch Lektüreunterbrechungen offenbar. Mitunter legte er ein gelesenes Buch beiseite, um Jahre später an genau der Stelle der Unterbrechung wieder mit der Lektüre einzusetzen. Auch wenn man ein noch so gutes Gedächtnis unterstellt, lassen Bücher einen derart abrupten Umgang mit ihrer Gesamtkonzeption nicht zu. Der argumentative Bogen geht verloren oder wird erst gar nicht verfolgt, wenn man – wie Blumenberg mit Lineal und Stift bewaffnet – für das eigene Schaffen interessante Einzelstellen zu entdecken sucht. Blumenberg hat es aber auf eine Isolierung der Zitatfunde geradezu angelegt, nutzte er doch für das Exzerpieren von wissenschaftlichen Monographien