eines Ortes in einem neuen Gedankenkontext zuließ. Blumenberg besaß einen ausgeprägten Spürsinn für Quellen und ihr oftmals verdecktes Potenzial. Es wird vielen Lesern so ergehen, in seinen Werken auf Zitate zu stoßen, »über die man hinwegläse, brächte sie nicht ein Interpret wie Blumenberg zum Funkeln«.5 Angesichts der Herausforderung, die nicht so sehr die Erstellung, sondern vornehmlich der fruchtbare Umgang mit einem großen Archiv an Gedankensplittern darstellt, ist es durchaus bemerkenswert, dass Blumenberg an der Maßlosigkeit seines Zettelkastens philosophisch nicht zugrunde gegangen ist. Seine Philosophie bezeugt vielmehr durch ihre gedanklichen Kontinuitätsstiftungen, wie sie in den großen problemgeschichtlichen Narrativen ihren Ausdruck gefunden haben, eine intellektuelle Meisterung der Überfülle des bedenkenswerten Materials.
Zugleich gehört es zum Glück des Nutzers eines Zettelkastens, wenn sich die Verbindung zwischen zwei scheinbar weit auseinanderliegenden Gedankenmotiven wie von selbst einstellt, sobald man die Notizen nebeneinanderlegt. Erst die präparierende Hervorhebung und somit Kontextabschottung schafft jene verblüffende Verknüpfungsbereitschaft der Fundstücke, wenn etwa in dem Buch Lebenszeit und Weltzeit der Satz aus der Apokalypse des Johannes, der Teufel wisse, dass er wenig Zeit habe, als Vorbereitung für das folgende Kapitel über das Betreiben des Untergangs durch Hitlers Vernichtungswahn dient. Wer für eine derartige Geometrie von Sinnfiguren auch über große Zeiträume hinweg unempfänglich ist, wer nicht ins Staunen gerät, wenn das eine zum anderen findet und sich überraschenderweise fügt oder als gegensätzlich spiegelt, dem wird ein wichtiges Lustmoment der Schriften Blumenbergs verborgen bleiben. So eindrucksvoll der Zettelkasten in seiner materialisierten Gestalt auch ist – das philosophisch Spannende findet zwischen den einzelnen Karteikarten statt.
Aus dem Bodensatz der flachen Notizkarten hat Blumenberg ein Hochgebirge an gelehrten Büchern erwachsen lassen, die eine Geschichte der Gegenwart nachzeichnen. Sie suchen im Bildungskanon der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihresgleichen. Das ist nicht ohne Anerkennung geblieben. Odo Marquard hat in Blumenbergs Werk – »trotz Adorno und Gehlen und Gadamer, trotz Lübbe und Habermas« – das »wohl faszinierendste Œuvre der Nachkriegszeit in Deutschland«6 ausgemacht. Eckhard Nordhofen nannte Blumenberg den »vielleicht gelehrtesten Denker des Landes«, für dessen Beschreibung man »eine eigene Klasse einrichten müßte«;7 für ihn sind Blumenbergs Bücher »gelehrte Schatzhäuser, reich und dick, die Bücher eines einzigartig Belesenen«.8 Henning Ritter zeigte sich beeindruckt von dem »Reichtum solcher Bildung in einem Umfang, wie sie sonst von kaum einem mehr produktiv beherrscht« werde, und der zu Leseerfahrungen führe, »für die es innerhalb der Philosophie keine Parallele«9 gebe. Es ist von »auf eine fast schon absonderliche Art gebildeten Büchern«10 gesprochen worden. Thomas Assheuer lobte seine »meisterhaften Deutungen«.11 Blumenbergs Schriften haben somit ein Echo ausgelöst – weit über die akademische Fachwelt hinaus, wie die genannten Feuilletonisten belegen –, das ihn als einen »der bedeutendsten deutschen Philosophen der Nachkriegszeit«12 auszeichnet. Damit nicht genug: Blumenbergs literarisch ambitionierter Stil hat zu einer Prosa geführt, die, wie manche meinen, »seit Thomas Mann im Deutschen unerreicht geblieben ist«.13 Nicht umsonst zählte Frank Schirrmacher Blumenberg zu den »führenden Schriftstellern des Landes«.14
Dem haben andere widersprochen. Ferdinand Fellmann hat stellvertretend für analytisch geschulte Geister kritisiert, Blumenbergs Stil wirke »stellenweise manieriert«.15 Die Germanistin Hannelore Schlaffer hat Blumenbergs Schreibstil, vor allem mit Blick auf den 1987 erschienenen Essayband Die Sorge geht über den Fluß, einer Grundsatzkritik unterzogen und Blumenberg als »dilettierenden Poeten« bezeichnet, der Adornos Stil – vor allem in Minima Moralia – »bis zur Verkrampfung«16 zu imitieren unternommen habe. Auch die sich in seinem Denken dokumentierende Gelehrsamkeit als Frucht seines Zettelkastens hat kritische Vorbehalte provoziert. Selbst Zeitgenossen, die Blumenbergs Leistung zu schätzen wussten, Karl Löwith etwa, monierten mitunter ein Missverhältnis von Anstrengung und Ertrag: »Wozu dieser Aufwand an scharfsinnigen Überlegungen« und an »ausgebreiteter historischer Bildung«?17 Nahezu wortgleich Kurt Flasch: »Warum diese vielen Wege? Wozu der ungeheure gelehrte Aufwand?«18 Weshalb also den mühsamen Durchgang durch die heranzitierte Geistesgeschichte wählen, wenn es doch auch ohne Exzesse an Quellenmaterial geht? Edmund Husserl oder Ludwig Wittgenstein kommen einem in den Sinn, sucht man nach Denkern, die – von Detailkenntnissen der Geistesgeschichte oftmals unbehelligt – nahezu zitatfrei philosophiert haben. Im Kern seien Blumenbergs Antworten auf die Fragen des Lebens recht einfach, urteilt Hermann Lübbe, aber Blumenberg verstecke das, »gleicherweise diskret wie trivialitätsscheu, hinter den Reichtümern seines überaus gebildeten Zettelkastens«.19
Sollte sich die stupende Gelehrsamkeit Blumenbergs als Prunk erweisen, um philosophische Dürftigkeit zu kaschieren? Wer in Münster studiert hat, konnte noch während seiner Lehrtätigkeit von einer unter den Studenten kursierenden und hinter vorgehaltener Hand kolportierten Frage hören, die dem Philosophen gestellt worden sei: Was würde er eigentlich tun, so die Provokation, wenn man all seine Zettelkästen auf dem Münsteraner Prinzipalmarkt ausschütten würde?
Härter hätte die Infragestellung nicht ausfallen können, grundsätzlicher nicht der Vorwurf. Mit einer einzigen Frage wird die genuine Produktivität dieses Philosophen, seine denkerische Impulskraft und systematische Souveränität, angezweifelt. Alles voll von Zitaten, mag man einen berühmten Satz des Thales variieren. Ein Beleg nach dem anderen, ein ermüdender Historismus an Gelehrsamkeit, Rezeptionsgeschichte statt Philosophie – so ist die Provokation zu lesen. Seit den Anfangstagen der Philosophie ist Sokrates, der nichts Geschriebenes hinterlassen hat, Inbegriff einer Frische des dialogischen Denkens, demgegenüber zitatschwere Texte gelehrter Autoren schnell behäbig wirken können.
Ich halte diese Kritik für falsch, aber fruchtbar. Man sollte ihr nicht vorschnell den Stachel ziehen, indem man – völlig zu Recht! – auf die umfangreichen Texte Blumenbergs verweist, die nahezu ohne den Gedankenfahrplan sortierter Karteikarten auskommen und die philosophische Kraft dieses Denkers mehr als belegen – man denke nur an die ausladende wie intensive Beschreibung des Menschen. Die vorgetragene Kritik aber zwingt dazu, die imponierende Materialität des Zettelkastens zurückzustellen und stattdessen über seine Bedeutung zu philosophieren. Solange man über ihn den Kopf schüttelt, da man den dafür notwendigen Arbeitseifer als eine Kompensation von Defiziten entlarven zu können meint, oder solange man voller Bewunderung auf ihn blickt, als hätte man den weltlichen Gral philosophischen Denkens vor sich, bleibt äußerlich, was doch der philosophischen Reflexion bedarf.
Auf die höhnische Frage, was das Ausschütten der Karteikarten auf dem Münsteraner Prinzipalmarkt für ihn bedeuten würde, hat Blumenberg nicht reagiert, zumindest ist mir keine Antwort zu Ohren gekommen. Gleichwohl lassen sich in seinen Texten Andeutungen finden, wie er den Angriff hätte parieren können. Blumenberg stemmt sich mit seinem gesamten Werk gegen die von ihm diagnostizierte gegenwärtige »Zeit der Verachtung von Gelehrsamkeit«.20 Er verweist auf die Folge von »Jahrzehnten entschlossener Destruktion klassischer Anteile am Bildungswesen«.21 Für ihn ein verheerender Vorgang, der die Reichweite unseres Denkens limitiert, denn: »Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont.«22 Zeichen für die »intellektuelle Gesundheit« sei die »Spannweite von Unvereinbarkeiten im Hinblick auf ein und dieselbe Sache, die ausgehalten wird und dazu noch Anreiz bietet, Gewinn aus der Beirrung zu ziehen«.23 Der Zettelkasten als Archiv des widersprüchlich Gedachten wird zum Anlass geistiger Gymnastik und zum Instrument der eigenen Humanisierung, die darin besteht, Welt zu haben.
Vehement tritt Blumenberg daher der Naivität entgegen, die meint, auch in der Philosophie auf den sich aus der Tradition nährenden Bildungsreichtum verzichten und die Geschichte Geschichte sein lassen zu können. Dem »Vorteil der Authentizität durch Geschichtslosigkeit«, der Husserl und Wittgenstein als maßgeblichen Denkern der Moderne zugutezukommen scheint, stellt Blumenberg das »Risiko der Lächerlichkeit« entgegen, die in der »Verblüffung« besteht, »daß schon lange und vielgestaltig gesagt worden ist, was einer zum erstenmal gesagt zu haben meint«.24 Jedes noch so sehr auf Aktualität und Gegenwärtigkeit geeichte Denken verdankt sich für ihn einem gewachsenen Hintergrund seiner