für Blumenberg »eine opportunistische Marscherleichterung mit verhängnisvollen Folgen«.25 Wir haben nicht Geschichte, wir sind Geschichte: »Daß die Auswahl von Weltdeutungen, die Entscheidung unter Lebensformen bereits erfolgt ist, macht den Sachverhalt aus, Geschichte zu haben.«26
Als Repräsentanten für die Kultivierung einer vermeintlichen Geschichtslosigkeit führt Blumenberg Denker wie René Descartes an, der postuliert hat, für die Wissenschaften sei insgesamt überhaupt kein Gedächtnis nötig.27 Da Descartes auch die Philosophie zu den Wissenschaften zählte, sank für ihn auch die ihr eigene Tradition zu einem Hort zu überwindender Vorurteile herab. Noch Husserl wird als Cartesianer – in Blumenbergs Worten – ein »Geschichtsverächter«28 sein und die Jahrtausende als eine Vorgeschichte seiner Phänomenologie zusammenschnurren lassen. Größer könnte die Distanz Blumenbergs zu dem Protorationalisten der Neuzeit und Erneuerer des geschichtslosen Neuanfangs nicht sein. In seinem umfangreichsten wie vielleicht gelehrtesten Buch, Höhlenausgänge, betreibt Blumenberg mit großem Aufwand eine geschichtliche Umfeldanreicherung des platonischen Höhlengleichnisses. Dieser in Buchform gebrachte Anticartesianismus, die rationale als die kürzeste Verbindung zwischen zwei Gedankenpunkten auszuschlagen und stattdessen all die Um- und Abwege zu verfolgen, die das Höhlengleichnis durch die Denkgeschichte genommen hat, hat ihn drei Jahrzehnte Erinnerungsarbeit gekostet. Heidegger dagegen behandelte das platonische Höhlengleichnis, wie Blumenberg kopfschüttelnd anmerkt, »wie ein Vorsokratikerfragment: als habe man ringsum nichts«.29 Und während Blumenberg die mäandernden Denkwege des Menschen in seiner Geschichte in opulenten Werken abzuschreiten unternommen hat, kultivierte Wittgenstein in seinen Augen eine »Rhetorik der Kargheit« mit einer »apodiktischen Kürze seiner Sätze«.30 Blumenberg verweist auf Wittgensteins Pflichtvortrag als neues Mitglied des Cambridge University Moral Science Club im Jahr 1912, der die Frage »Was ist Philosophie?« zum Thema hatte und laut Protokoll nur vier Minuten gedauert hat.
Der Streit um den Nutzen und Nachteil des Zettelkastens für das Philosophieren – nur das möchte ich andeuten – ist kein äußerlicher, kein in persönlichen Animositäten aufgehender, sondern selbst ein philosophischer. Man kann es auch so sagen: Je sicherer man sich sein kann, Wahrheiten vorweisen zu können, desto eher kann man auf die Unmenge an Dokumenten des jemals Gedachten verzichten. Je mehr aber das andauernde Provisorium von Selbst- und Weltdeutungen anerkannt wird, desto spannender, hilfreicher und notwendiger werden die Auskünfte anderer und eben auch vormals Gewesener. Insofern ist Blumenbergs Zettelkasten auch ein materialisierter Ausdruck der anthropologischen Grundeinsicht, den Menschen als ein kognitives Mängelwesen zu begreifen, da ihm Wahrheit nicht leicht zugänglich ist und er dadurch erst den unersättlichen Appetit auf die Weltdeutung anderer bekommt. Platon hat keinen Zettelkasten angelegt.
Der Zettelkasten ist Ausdruck der Anerkennung einer unumgänglichen Umwegigkeit der menschlichen Selbsterkenntnis. Wo letzte Evidenzen nicht momentan erreichbar sind, setzen Ausführlichkeit und Umständlichkeit ein. »Über das Endgültige läßt sich nicht so viel sagen wie über das Vorläufige.«31 Umwegigkeit aber ist im Kern nichts anderes als Kultur, die wiederum in der Vermeidung der kürzesten Wege besteht. Erst die vielen, manchmal schon ausgetretenen und selten kurzen Wege, die gegangen werden, spannen ein Netz an Bewusstseinsrouten über unsere Welt. Damit kommen die anderen erneut ins Spiel: »Nicht jeder erlebt alles, wenn auf Umwegen gegangen wird; dafür aber auch nicht alle dasselbe, wie wenn auf dem kürzesten Weg gegangen würde. Andersherum: Alles hat Aussicht, erlebt zu werden, wenn es gelingt, alle auf Umwegen gehen zu lassen.«32 Darin besteht die Kostbarkeit alles von Menschen Erfahrenen, Gedachten und zum Ausdruck Gebrachten. »Jeder hat für jeden, den Voraussetzungen nach, etwas in pectore«, also unter Verschluss, »was nur er herauszugeben vermag und wodurch er Anspruch auf das erwirbt, was der andere seinerseits auf seinem Weg ad notam«, also zur Kenntnis, »genommen hat.«33 Jedes konservierte und präparierte Zitat auf einer von Blumenbergs Karteikarten ist Teil dieses humanen Tauschhandels mit Einsichten über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg. Jedes von ihnen ist eine Wegmarke einer gelebten und sich zum Ausdruck bringenden biographischen Bewusstseinsgeschichte.
Dabei ist der ideelle Tauschhandel mit Welterfahrungen unter den Bedingungen der Geschichte jenseits der Zeitgenossenschaft ein einseitiger. Der Textfund als ausdrückliches oder unausdrückliches Dokument eines humanen Wirklichkeitsverständnisses, das uns aus der Tiefe der Zeit erreicht, bereichert unsere Welthaltigkeit, ohne dass wir in der Lage wären, dessen Autor etwas von unserer Weltsicht zurückzugeben. Schon Bernard de Fontenelle hat in seinen Nouveaux dialogues des morts, die 1683 erschienen sind, eine Dankesschuld empfunden. In seiner Vorbemerkung wendet er sich an Lukian, den antiken Begründer des Genres der Nekrikoi dialogoi, der ›Totengespräche‹. Es sei nur billig, »daß ich, nachdem ich eine Idee aufgegriffen habe, die Euch gehört, Euch dafür auch eine gewisse Huldigung darbringe«.34 Das gilt auch für die erlaubten Einsichten in die Umwege anderer, denen wir ebenso eine ›gewisse Huldigung‹, quelque sorte d’hommage,35 schuldig sind.
Der Zettelkasten Blumenbergs, insofern er Zitate Verstorbener enthält, gleicht einem Friedhof des Gedachten, das in den Texten des Philosophen seine Auferstehung feiern soll. Das mag angesichts sonstiger pragmatischer Funktionsbeschreibungen pathetisch anmuten, doch Blumenberg selbst war – bei seltenen Gelegenheiten – das Pathos nicht fremd. Er hat von einer »elementaren Obligation« gesprochen, »Menschliches nicht verloren zu geben«.36 Es sei dabei »nicht Sache unserer Wahl, sondern des an uns bestehenden Anspruches, die Ubiquität des Menschlichen präsent zu halten«.37 In dieser anerkannten Verpflichtung drückt sich ein Humanismus aus, der die Arbeit mit einem so reichhaltigen Archiv über den Aspekt des Nutzens für seinen Besitzer erhebt.
Faktisch begrenzt, steht das Archiv zumindest symbolisch für die prinzipiell unabschließbare Verzettelung der gedachten Welt. Darauf verweist schon das Ordnungsprinzip der Kartennummerierung. Zwar sieht das numerische System eine erste, aber keine letzte Karte vor, könnte doch der Zählung nach stets eine weitere folgen. Es ist darüber hinaus ein leicht zu übersehender Aspekt, dass Blumenberg zwar im Nachhinein Karteikarten zu Themengruppen für seine Bücher zusammengestellt, aber eben nicht im Vorhinein gedankliche Schubladen entworfen hat, die dann lediglich noch mit passendem Material bestückt zu werden brauchten. Darin drückt sich eine Rezeptionsoffenheit aus, die ebenso unbedingt ist wie die Verpflichtung zur Erinnerung, zur memoria. Pathos und Nüchternheit, Ethos und Pragmatismus bestimmen Blumenbergs Umgang mit dem Zettelkasten gleichermaßen. Nichts ist randständig genug, zu abgelegen, zu skurril oder befremdlich, um nicht einen gleichrangigen Ort im Zettelarchiv der bewussten Welt zu finden – ebendiese Gleichwertigkeit als Dokument des Humanen bringt die normierte Karteikarte zum Ausdruck, die einem Wort Goethes kein anderes Format zuweist als einem Gedanken von Wilhelm Busch oder eines nahezu vergessenen Autors von den Rändern der intellektuellen Welt. »Die Ureinwohner Patagoniens ebenso wie die … Kwakiutl«, die Ureinwohner Vancouver Islands in Kanada, »haben einen Anspruch darauf, nicht nur am Leben gelassen zu werden, sondern auch von denen, die Theorie betreiben, theoretisch nicht vergessen zu werden, den Anteil an der Menschheit in ihrer Person gewürdigt und bewahrt zu sehen«.38
Das gilt für jeden. Blumenberg hat im begrenzten Feld seiner geistesgeschichtlichen Studien dem elementaren Wunsch des Menschen, nicht vergessen werden zu wollen, exemplarisch entsprochen. »Auch Geschichte der Philosophie, weiterhin Geschichte der Wissenschaften zu betreiben, kann nur eine der Formen sein, Anspruch auf die Achtung der Kommenden geltend zu machen, indem wir sie den Gewesenen erweisen.«39 Und sei es, indem man ihnen zunächst eine Karteikarte zuweist.
Sinn und Form:
Von der Humanität der Umständlichkeit
Die großen Werke Blumenbergs sind umständlich, oftmals schwer zugänglich und unübersichtlich, sie überwältigen den Leser mit ihrem Quellen- und Deutungsreichtum. Für den Seminarbetrieb an heutigen Universitäten sind sie nahezu ungeeignet – was nicht gegen die Bücher sprechen muss. Sie sind klassisch zu nennen, da in den Büchern Die Legitimität der Neuzeit, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Die Lesbarkeit der Welt, Arbeit am Mythos,