Jürgen Goldstein

Hans Blumenberg


Скачать книгу

So fragen Blumenbergs groß angelegte Relektüren der gedachten Welt expressis verbis nach dem Wandel der epochalen Wirklichkeitsverhältnisse – beiläufig hat in ihnen eine jeweilige Welt- und Selbstinterpretation des Menschen ihre mitunter nicht eigens artikulierte Gestalt gefunden. Seine Bücher handeln vom Mythos und von der Kosmologie, von der Allmacht Gottes und der Lesbarkeit der Welt, sie reflektieren die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte, fragen nach der Leistung des Begriffs und der Notwendigkeit der Metapher. Doch in all dem ist der Mensch stets mit erfragt. Es käme daher einer Fehleinschätzung gleich, die Beschreibung des Menschen als Blumenbergs monographisch verdichtete Anthropologie neben die thematisch anders gelagerten Bücher zu stellen. Sie ist nur der ausdrücklichste Beleg einer im gesamten Werk im Hintergrund wirksamen anthropologischen Ausrichtung.

      Für diese inwendige Perspektivenausrichtung gibt es bedeutsame Selbstauskünfte Blumenbergs. Auf die Frage, was Philosophie zu leisten habe, hat er geantwortet, sie sei im Kern »nichts anderes als werdendes Selbstbewußtsein des Menschen«.64 Die innerdisziplinären Ausprägungen der Philosophie finden für ihn ihren inneren Zusammenhalt in dem Versuch einer humanen Selbstverständigung: »Ob Philosophie wesentlich als Geschichte des Geistes, als Theorie der Erkenntnis, als Anthropologie, Ethik, Ontologie oder gar als formale Logik auftritt und verstanden wird – dies alles sind im Grunde nur Spielarten des einen Willens zu dieser einen Sache: zur Sprache zu bringen, was menschlich ist und was sich im Menschlichen zeigt.«65 Blumenberg hat den anthropologischen Fluchtpunkt seines Philosophieverständnisses wiederholt herausgestellt: »Die Aufgabe, die der Philosophie im Verband der Wissenschaften zufällt, läßt sich auf ihre Funktion im geistigen Haushalt des Menschen überhaupt zurückführen. Die zahllosen Definitionen, die für die Leistung der Philosophie in ihrer Geschichte gegeben worden sind, haben ihren Kern in einer Grundformel: Philosophie ist werdendes Bewußtsein des Menschen von sich selbst.«66 Ganz gleich also, wovon die Philosophie handelt, stets handelt sie auch vom Menschen. Noch in der Hinwendung zu Gegenständen, die außerhalb des Radius einer Anthropologie zu liegen scheinen – Atome etwa oder Sterne –, kommt der Mensch mit in den Blick: »Der Mensch begreift sich nur über das, was er nicht ist, hinweg.«67 Oder anders gewendet: »Nichts, was uns die Welt zu verstehen hilft, kann vergeblich sein, unsere Welt zu verstehen.«68 Insofern besitzen alle Formen wissenschaftlicher Theorie für ihn eine latente Ausrichtung auf den Menschen: »Die Beliebigkeit des Gegenständlichen, die so weithin den ausgebildeten und spezialisierten wissenschaftlichen Betrieb kennzeichnet, darf nicht verdecken, daß alles wissenschaftliche Forschen in einer originären Bedeutsamkeit für das menschliche Dasein wurzelt«,69 schreibt Blumenberg schon in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1950.

      Den Menschen als Fluchtpunkt der humanen Neugierde an der Welt anzusehen, trotz der disziplinären Ausdifferenzierung dieses Interesses, macht einen Grundzug der Moderne aus. »The proper study of mankind is Man«,70 postulierte Alexander Pope in seinem zuerst 1733 erschienenen Essay on Man. Dem Einzelnen stehe es offen, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anziehe, heißt es in Goethes Wahlverwandtschaften, »aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch«.71 Und Ernst Cassirer sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sein Interesse an psychologischen, ontologischen und epistemologischen Fragen, an Mythos und Religion, Sprache, Kunst, Naturwissenschaft und Geschichte ergebe nichts als eine zusammengewürfelte Ansammlung aus disparaten und heterogenen Elementen. Er hielt dem entgegen, alle erwogenen Themen bildeten »letzten Endes ein einziges Thema«, sie seien »verschiedene Straßen, die zu einem gemeinsamen Mittelpunkt führen«.72 Um diesen Mittelpunkt zu bestimmen, hat Cassirer eine Philosophie der Kultur auf den Weg gebracht, in deren Zentrum der Mensch steht.

      Blumenberg zeichnet daher in großen Bögen Bewusstseinsgeschichten nach, die der diskreten Anthropologie zuarbeiten. Als ein Stück historische Anthropologie sucht er gewesene Bedeutsamkeitshorizonte des Menschen zu sichern, da für ihn die moderne Einsicht in die Historizität jedes humanen Wirklichkeitsverständnisses unhintergehbar ist. Zugleich ist diese Anthropologie eine unfertige, also eine sich noch im Werden befindliche, da wir erst wissen werden, was der Mensch ist, wenn er alles gewesen sein wird, was zu sein er in der Lage war.

      In der Art einer Bedeutungsarchäologie widmet sich Blumenbergs diskrete Anthropologie den Bewusstseinsschichtungen: Wie eine einzelne Person nicht einfach Erinnerungen hat, sondern ihre Erinnerungen ist, so ist auch der kulturierte Mensch – und einen anderen gibt es nicht – eingebettet in Bewusstseinsgeschichten, »in Geschichten verstrickt«,73 wie es bei Wilhelm Schapp heißt. Eine diskrete Anthropologie ist schon ihrer Konzeption nach spezifisch modern, ist doch die Neuzeit eine »Epoche des Bewußtseins«74 – um jede Spur eines Hegelianismus und mit ihm die Erwartung teleologischer Entwicklungen zu vermeiden, spricht Blumenberg von ›Bewusstsein‹ und nicht von ›Geist‹. Blumenbergs Philosophie will herausstellen und, wo nötig, zur Ausdrücklichkeit bringen, was in den Sedimenten der Bewusstseinsgeschichte des Menschen markant oder oftmals bis zur unkenntlichen Selbstverständlichkeit eingelagert ist.

      Eine diskrete Anthropologie der vielen Denkwege ist letztlich von einem »geschichtlichen Respekt vor der Gleichrangigkeit der menschlichen Selbsthilfen im Weltverständnis«75 getragen. Kaum etwas hat Blumenberg mehr verachtet als die »Mediatisierung der Vergangenheit für die Gegenwart, für eine Gegenwart, für deren Relevanzforderungen, ihre Aktualitätsmaße, die nur das auf diese Gegenwart Durchschlagende gelten lassen«.76 Was er als die Geschichte der Bewusstwerdung des Menschen nachzuzeichnen sucht, setzt auf eine nacherzählbare Kontinuität, für die man keinen Fortschrittsglauben unterstellen muss. Jedes für uns lesbare Dokument aus den Tiefen der Geschichte des Menschen, wie auch jedes von uns der Nachwelt vermachte Zeugnis unserer selbst, beglaubigt die nicht korrumpierbare Verwandtschaft aller Menschen vor der Aufgabe der Selbsterhaltung. In dem Titel seines 1981 erschienenen Aufsatzbändchens Wirklichkeiten in denen wir leben hat Blumenberg das leicht übersehbar zum Ausdruck gebracht: Denn es sind ›wir‹, die in Wirklichkeiten leben. Manfred Sommer hat darauf hingewiesen, mit diesem ›wir‹ seien keinesfalls allein die Gegenwärtigen gemeint, verdanke sich doch das, was unser Leben ausmacht, in unaufhebbarer Weise unseren Vorfahren; doch auch die, die noch kommen, gehören zu diesem ›wir‹.77

      Blumenbergs Blick auf die weitverzweigte Geistesgeschichte stellt also den Versuch dar, in oftmals groß angelegten Spannungsbögen nachzuerzählen, wie sich in der Bewusstseinsgeschichte zur Sprache gebracht hat oder zur Sprache bringen lässt, was menschlich ist und was sich – bisher – im Menschlichen gezeigt hat. Dadurch unterläuft seine Philosophie die akademischen Erwartungen eines Formats von Aussagen, die für eine philosophische Anthropologie unmittelbar von Relevanz sind. Ihre Postulate und Einsichten sind oftmals zu indirekt formuliert, um als genuine Beiträge auf die Frage, was der Mensch denn sei, wahrgenommen zu werden: Die Glossen zu Fontane etwa, die Ausdeutung von Gipfeltreffen prominenter Zeitgenossen, die Achtsamkeit gegenüber Anekdoten – all das droht vorschnell einer literarischen Ambition Blumenbergs zugeschlagen und somit klammheimlich um seine philosophische Bedeutung gebracht zu werden. Für Blumenberg gibt es aber nichts, was zu entlegen wäre, um nicht einer diskreten Anthropologie hilfreich sein zu können. Jeder der von ihm herangezogenen Funde belegt, »daß in der Geschichte nichts so abseitig und abwegig sein kann, wie es sein müßte, um nicht die Spur eines menschlichen Sachverhalts, einer emotionalen Last, einer Bedrängnis im Denken zu liefern«.78

      Henning Ritter hat Blumenberg daher einen »Physiognomiker der vielen Gesichter des Denkens«79 genannt. Ein philosophisches Portrait des Menschen besteht für Blumenberg aus all den gewesenen und möglichen Gestalten, die das Bewusstsein von der Wirklichkeit annehmen kann. Daher hat für ihn die Tradition selbst »einen selektiven Effekt, und zwar auf das ›menschlich‹ Bedeutsame hin: was den Menschen zentral affiziert, was unabhängig von den Aussichten theoretischer Verifikation seinem Selbstverständnis zur Artikulation verhilft«.80

      Die nicht erreichbare letzte Eindeutigkeit und das zugestandene Ausbleiben definitorischer Klarheit über den Menschen prägen nicht nur die Vorgehensweise einer diskreten Anthropologie, sondern auch die Art und Weise, wie sie ihre Einsichten präsentiert. Blumenbergs diskrete Anthropologie erweist sich gleichsam vom intellektuellen