Welt hat er sich zu behaupten. So sehr Blumenberg die weltanschauliche Tönung des 19. Jahrhunderts zu kritisieren wusste, so vertraut ist sie ihm doch auch geblieben. »Nicht nur, weil er Abenteuer der Grenzdurchbrüche wie die Driftfahrt der ›Fram‹ sucht, ist der Mensch ein riskantes Wesen. Er ist es schon kraft seiner biologischen Herkunft aus der schmalen Zone der letzten Zwischeneiszeit, aus der harten Schule zwischen den Eisrändern vorrückender Gletschermassen der im Wechsel ihres Vorrückens und Zurückgehens sich mühselig heranziehenden und behauptenden Lebenstüchtigkeit: das Naturwesen gegen die Natur …«26 Der Mensch ist das Wesen, das sich auf Zeit seine kulturellen Oasen zu erhalten vermag, um über Zonen des Überlebens zu verfügen.
Die Erfahrung der Fragilität und Vergänglichkeit des schützenden Raumes hatte Blumenberg schon als junger Mensch machen müssen. Er hatte Nansens In Nacht und Eis als Neunjähriger im Herrenzimmer seiner Lieblingstante auf dem Fußboden liegend verschlungen. »Zwölf Jahre später gab es das Zimmer, die Tante und den Nansen nicht mehr.«27
Tradition und Ursprünglichkeit
In der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 wurde Lübeck durch Einheiten der britischen Luftwaffe über mehrere Stunden bombardiert. Es war das erste Flächenbombardement einer deutschen Stadt im Zweiten Weltkrieg. Die Folgen waren verheerend. Hunderte Tote und Verletzte waren zu beklagen, Tausende Lübecker wurden obdachlos. Ganze Straßenzüge der Altstadt brannten aus, auch die Marienkirche wurde schwer getroffen, vom Buddenbrookhaus in der Mengstraße 4 standen nur noch die Fassade und Seitenmauern. Thomas Mann zeigte sich aus dem fernen Amerika betroffen: »Das geht mich an, es ist meine Vaterstadt.« Aber er sah eine Logik des Ausgleichs am Werk, nach der »alles bezahlt werden muß«. So schlimm die Zerstörungen auch sein mochten, waren sie nicht gerecht? »Hat Deutschland geglaubt, es werde für die Untaten, die sein Vorsprung in der Barbarei ihm gestattete, niemals zu zahlen haben?« Er rettete sich auf seine Weise in eine Zukunft, die der Zerstörung der Barbarei folgen mochte, indem er konstatierte, »solche Trümmer schrecken nicht denjenigen, der nicht nur aus der Sympathie für die Vergangenheit, sondern auch aus der für die Zukunft lebt. Der Untergang eines Zeitalters braucht nicht der Untergang dessen zu sein, der in ihm wurzelt und der ihm entwuchs, indem er es schildert.«28 Im Zuge der britischen Luftangriffe, die das Ziel hatten, das Nazi-Regime in die Knie zu zwingen, versank auch das Elternhaus von Hans Blumenberg in Schutt und Asche. Im späten Rückblick hat er bekannt, dass er – seiner Geburtsstadt zeit seines Lebens tief verbunden – »den Untergang Lübecks in der Palmsonntagnacht 1942 in der Innenstadt ›erlebt‹ habe« und dass ihm »das Fanal der Wendung des Krieges damals wichtiger war als das vermeintlich endgültige Verstummen der Lübecker Orgeln«.29 Es ging um Rettung, nicht um Bewahrung. Der spätere Philosoph wusste aus eigener Anschauung, was ›Destruktion‹ gewachsener Tradition bedeuten kann und warum sie mitunter notwendig ist.
Eine jüngere Generation, die Blumenberg nie im akademischen Umfeld erlebt hat, kennt die Scheu nicht, näher auf seine frühen biographischen Umstände einzugehen. Blumenberg selbst ist diskret mit seinen Erfahrungen während des Dritten Reichs umgegangen – als man noch bei ihm studieren konnte, wusste man darüber nur Ungefähres, und das reichte einem. Er hat einmal von der »Unziemlichkeit der Neugierde der Epigonen« gesprochen, »die uns mit einer Wendung des Blicks konfrontiert, die vielleicht nur privatim erlaubt ist«.30 Ein philosophisches Portrait, das kein biographisches zu sein unternimmt, hat gegenüber den privaten Lebensumständen Zurückhaltung zu üben.
Dennoch gehe ich mit einer knappen Skizze auf die Lebensanfänge Blumenbergs ein, aus drei Gründen. Zum einen sind die Erfahrungen, denen er ausgesetzt war, nicht nur privat und somit intim. Blumenberg teilte die Erlebnisse von Krieg und Verfolgung mit vielen anderen seiner Generation, wenn auch jeder sie von einer anderen Warte aus erfahren hat: Hannah Arendt etwa, Dolf Sternberger, Jürgen Habermas oder Johann Baptist Metz. Der prägende Eindruck dessen, was man aller Dramatik entkleidet die ›geschichtliche Situation‹ nennen darf, hatte nicht nur individuelle, sondern eben eine generationenübergreifende Kraft.
Zum anderen hat Blumenberg selbst immer wieder in seinen Publikationen einzelne Bemerkungen im Zusammenhang mit der »größten bisherigen Sinnkatastrophe der Geschichte«31 fallen lassen. So etwa, als er im Fragebogen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 als die militärische Leistung benannte, die er bewundere; oder als er in einem Zeitungsartikel über Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus auf sein eigenes Versteck in Lübeck zu sprechen gekommen ist, das ihm das Überleben sicherte.32 Über derartig eingestreute biographische Auskünfte hinaus finden sich auch ausdrücklichere Auseinandersetzungen mit den geschichtlichen Hintergründen seines Lebens: Ein zentrales Kapitel aus Lebenszeit und Weltzeit ist Hitler gewidmet, und Arbeit am Mythos enthält eine implizite Auseinandersetzung mit Carl Schmitt. Noch allgemeiner gewendet, merkt man der Philosophie Blumenbergs an, welche Erfahrungen ihr in den Knochen steckt. »Der Fliehende spürt im Rücken, was ihm nachsetzt«,33 heißt es einmal.
Schließlich sind die frühen biographischen Koordinaten Blumenbergs für das rechte Verständnis einer Ausdrucksschicht seiner beiden Qualifikationsschriften, der Doktorarbeit und der Habilitationsschrift also, unerlässlich. In ihnen hat Blumenberg den Stellenwert der Tradition und die radikale Erfahrung der geschichtlichen Erschütterung als ›Ursprünglichkeit‹ reflektiert und bis in die herangezogene Terminologie hinein sich seine zeitgeschichtlich bedingten Prägungen einzeichnen lassen.
Was also macht den biographischen Hintergrund aus, vor dem sich das geistige Profil dieses Autors abhebt? Der im Anhang der Doktorarbeit obligatorisch beigegebene Lebenslauf – eine der seltenen offiziellen biographischen Selbstauskünfte Blumenbergs – besticht durch das, was er unerwähnt lässt oder nur andeutet: »Geboren am 13. Juli 1920 zu Lübeck als Sohn des Kaufmanns J. C. Blumenberg, deutscher Staatsangehörigkeit, habe ich nach der Grundschule das Gymnasium des Lübecker Katharineums besucht und dort 1939 das Reifezeugnis erhalten. Sodann studierte ich scholastische und neuthomistische Philosophie, und zwar 1 Semester an der Philosophisch-theologischen Akademie in Paderborn und 2 Semester an der Philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen bei Frankfurt am Main, hier vor allem bei Caspar Nink. Nachdem ich 1941 mein Studium abbrechen musste, setzte ich meine Arbeiten, insbesondere auf dem Gebiete der mittelalterlichen Philosophie, bis 1943 privat fort. Dann nahm ich eine Tätigkeit in der Industrie auf. Nach Kriegsende brachte ich mein philosophisches Studium an der Universität Hamburg, vor allem bei Ludwig Landgrebe, zum Abschluss. Als Nebenfächer wählte ich Griechisch und Deutsche Literatur.«34 Diese knappen Ausführungen bedürfen einer Anreicherung und verdienen die eine oder andere Akzentuierung.35
Der Vater Josef Carl Blumenberg – von seiner Mutter ist nicht die Rede – war Kunsthändler, genauer: er handelte mit Radierungen und kirchlichen Devotionalien, Marienstatuen und Kunstdrucken von Marien- und Engelbildern. »In zahllosen Schlafzimmern hängen ehebettbreite Farbdrucke mit Engeln«,36 heißt es einmal in einem Text, an die rege Kaufmannstätigkeit des Vaters erinnernd. Die Familie Blumenberg stammte aus dem Bistum Hildesheim und verzeichnet etliche katholische Priester in ihrem Stammbaum. Blumenbergs Mutter Else, geborene Schreier, entstammte einer jüdischen Familie. Sie konvertierte vor der Hochzeit zum katholischen Glauben, was aber nichts daran änderte, dass ihr Sohn der Rassenideologie der Nazis zufolge als ein sogenannter ›Halbjude‹ galt. Nach dem frühen Tod seines jüngeren Bruders blieb er das einzige Kind. Drei Schwestern seiner Mutter wurden im Dritten Reich ermordet, darunter jene Tante, in deren Bücherbeständen der Nordpolbericht Nansens zu finden gewesen war. Blumenberg besuchte, wie vor ihm Thomas Mann, das Lübecker Katharineum. Als der dortige Direktor Georg Rosenthal, der den Nobelpreisträger 1931 nach Lübeck eingeladen hatte, 1933 von den Nazis abgesetzt wurde, bewirkte das im Quartaner Blumenberg »die unbestimmbare Wahrnehmung eines bedrohlichen Gewaltaktes, der an den Nerv der Schule gehen mußte«.37 Thomas Mann hatte mit dem Untertitel des Romans Buddenbrooks, der im häuslichen Bücherschrank stand, das Stichwort gegeben: Verfall einer Familie. »Da war etwas von einer möglichen Nähe der für exotisch gehaltenen Wendung des vermeintlich Beständigen zur Katastrophe. ›Verfall‹ konnte sich auch hier und