Jürgen Goldstein

Hans Blumenberg


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sucht. Der in seinen Einschätzungen feinsinnige Henning Ritter hat davon gesprochen, Blumenberg lehre »Umwege zu gehen, auf denen man sich nicht verfehlen kann«.81 Vielleicht macht der diskrete Charakter dieser Art von Anthropologie, wie Blumenberg sie offeriert, einen Teil ihrer Attraktivität aus: Ganz gleich, womit Blumenberg sich beschäftigt, wartet auf den Leser die Erfahrung: Es geht zumindest indirekt und somit diskret auch um sein eigenes Leben.

      Bei aller Wuchtigkeit der Bücher ist dieses Angebot dezent. Für Blumenberg ist Philosophie eine »Disziplin der Aufmerksamkeit« und dem »Dienst an der Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit im weitesten Sinne«82 verpflichtet. Aufmerksamkeit aber ist »geradezu eine Form von Freiheit«, die es auch im Angesprochenen zu wahren gilt: »Belehren läßt sich ohne Einbuße an Autonomie keiner, aufmerksam machen jeder.«83 Und sei es darauf, was es wohl mit dem Menschsein auf sich hat.

       Destruktionen

      Frühe Einstimmung:

      Das Schweigen der Welt

      Wann jemand begonnen habe zu philosophieren, führte Hans Blumenberg in einer seiner Vorlesungen aus, könne nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Nur wann er aufgehört habe, Philosophie zu betreiben, lasse sich mit Sicherheit bestimmen: mit seinem Tod. Dieser letzten Eindeutigkeit steht die Unschärfe des Anfangs gegenüber. Schwellen machen das Leben aus: Niemand zweifelt aufgrund der Prägnanz der Differenzen an der sinnvollen Unterscheidung von Kindheit, Jugend, Erwachsenenleben und Alter, auch wenn die Übergänge so unmerklich sind wie der Wechsel von Tag und Nacht mit dem Zwischenreich der Dämmerung. Harte Zäsuren sind die Herausforderung der biographischen Kontinuität und Identität. Sie kommen vor, stellen aber den Grenzfall des Lebens, nicht dessen normalen Fluss dar.

      Es mag daher durchaus erinnerbare Anfänge und klar bestimmbare Auslöser für das Philosophieren geben. Allgemein vorauszusetzen ist aber doch eher ein diffuser Anfang des Nachdenkens, des Fragens und Antwortens, der irgendwann einen bestimmten Grad der Ernsthaftigkeit erreicht. Den ersten Gedanken eines Philosophen gibt es nicht, und die dokumentierten Äußerungen, seien sie veröffentlicht oder als private Niederschrift erhalten, sind bereits ein spätes Stadium einer sich im Ungefähren verlierenden »Geistesfrühe«.1 Warum ist das von Bedeutung? Warum begnügen wir uns nicht damit, etwa die erste Publikation eines Philosophen als Startpunkt seiner denkerischen Biographie anzusetzen? Wir wissen von Blumenberg nicht, wann er begonnen hat zu philosophieren. Aber bevor jemand Autor wird, ist er ein Leser. Damit erhellt sich der biographische Schritt zum eigenen Philosophieren zwar nicht auf wünschenswerte Weise, aber frühe Lektüren eines Philosophen sind von Bedeutung, wenn sie im späteren Werk ein Echo gefunden haben und somit eine Gedankenspur noch vor die biographisch ersten Niederschriften führt. Das ist bei Hans Blumenberg der Fall.

      Nun mag man im Rückblick manches erwarten, was zu den eindrücklichen Leseerfahrungen des heranwachsenden Blumenberg gehört haben könnte: Klassiker der Antike, Wegmarken der neueren Geistesgeschichte oder Gegenwartsautoren der Philosophie. Hannah Arendt, zum Vergleich, hat als Jugendliche Kants Kritik der reinen Vernunft gelesen und war für die Philosophie gewonnen. Ernst Mach studierte als 15-Jähriger Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die auf ihn einen gewaltigen und unauslöschlichen Eindruck gemacht haben. Für Blumenberg dagegen war eine andere frühe Lektüre atemberaubend: Bei seiner Lieblingstante, »in einem nie beheizten ›Herrenzimmer‹«, las er als Kind »auf dem Fußboden liegend und zitternd – nicht vor Kälte – vor Aufregung«2 das zweibändige Werk des Polarreisenden Fridtjof Nansen In Nacht und Eis. Die Norwegische Polarexpedition 1893–1896. Diese »Nansen-Lektüre mit 9 Jahren« habe »lebenslang«3 auf ihn gewirkt.

      Diese Auskunft ist bemerkenswert. Blumenberg ist zu Lebzeiten in nur einer einzigen Veröffentlichung, drei Jahre vor seinem Tod, auf Nansen zu sprechen gekommen.4 Und doch behauptet er eine lebenslange Nachwirkung? Bei genauerer Betrachtung finden sich in seinen Büchern gedankliche Echos der frühen Lektüre, von den weltanschaulichen Tönungen ihrer Entstehungszeit gereinigt, aber für den Leser, der Blumenberg mit Nansen abzugleichen unternimmt, erkennbar.

      Fridtjof Nansen, 1861 in der Nähe von Oslo in Norwegen geboren, war eine der führenden Gestalten der Polarforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. 1888 führte er die erste Durchquerung Grönlands auf Skiern und stellte mit seinem zwei Jahre später erschienenen Buch Auf Schneeschuhen durch Grönland ein erstes Mal seine Doppelbegabung als Expeditionsleiter und Autor unter Beweis. Nansens Bücher über seine Vorstöße in die unwegsame Natur waren literarische Ereignisse. Wie kein anderes hat sein zweibändiges Werk In Nacht und Eis seinen literarischen Ruhm begründet. Ein Jahr nach der norwegischen Fassung war es 1897 als deutschsprachige Ausgabe im Brockhaus-Verlag mit über zweihundert, die Anschaulichkeit steigernden Abbildungen, vier Karten und acht »Chromotafeln«, also damals sehr aufwendigen Farbdrucken, erschienen. Es erzählt von Nansens Vorstoß zum seinerzeit noch unerreichten Nordpol.

      Nansens Vorhaben war tollkühn. Er hatte den riskanten Plan gefasst, mit einem eigens dafür konstruierten Schiff in die Arktis aufzubrechen.5 Die »Fram« – der Name des Schiffes bedeutet »vorwärts« – war so gebaut, dass sie die Möglichkeit bot, sich im Packeis einfrieren zu lassen, ohne von den Eismassen zerdrückt zu werden. Nansen hatte die Idee, die Eisdrift im nördlichen Polarkreis auszunutzen und sich auf diese Weise dem Pol zu nähern. Am 24. Juni 1893 brachen sie auf, beladen mit Proviant für fünf Jahre. Rasch ließen sie die norwegische Küste hinter sich, fuhren westlich entlang der sibirischen Küste und trafen gut einen Monat nach ihrem Aufbruch auf erstes Packeis. Am 17. September nahmen sie Kurs auf den Nordpol. Zwei Wochen später war die Fram eingefroren, unbeweglich im Eis. Das Schiff überstand in den folgenden drei Jahren alle Eispressungen. Nansens Konstruktionsidee war aufgegangen. Aber die Eisdrift nahm einen anderen Verlauf als erwartet. In einem zermürbenden Zickzackkurs näherten sie sich nur mühsam dem Pol. Am 12. Dezember 1894 erreichten sie zwar mit 82 Grad und 30 Minuten eine nördlichere Breite als jedes andere Schiff zuvor, aber noch trennten sie etwa 780 Kilometer von ihrem Ziel. Nansen traf die Entscheidung, zusammen mit Hjalmar Johansen von Bord zu gehen, um sich mit Schlitten, Kajaks, Hunden und Proviant auf das Wagnis einzulassen, über das Eis den Pol zu erreichen. Otto Sverdrup übernahm das Kommando auf der Fram. Der Aufbruch von Nansen und Johansen im März 1895 hatte etwas Ungeheuerliches an sich: »Nie hat irgendjemand je die Brücke hinter sich so entschieden abgebrochen. Wenn wir umkehren wollten, wir hätten absolut nichts, wohin wir uns wenden könnten, nicht einmal eine öde Küste. Es wird unmöglich sein, das Schiff wiederzufinden, und vor uns liegt das große Unbekannte.«6

      Auf Nansen und Johansen wartete ein unbeschreiblicher Kampf. Schonungslos und minutiös hat Nansen in seinem Tagebuch, der Grundlage für sein späteres Werk In Nacht und Eis, die Entbehrungen und Strapazen dieses Versuchs festgehalten. Immer wieder mussten sie die mit Kajaks beladenen Schlitten über Eisrinnen und Hügelketten hinweghieven. An manchen Tagen kamen sie kaum einen Kilometer durch das zerklüftete Eis voran. Am 8. April 1895 erreichten sie mit 86 Grad, 13,6 Minuten ihren nördlichsten Punkt. Kein Mensch war jemals so hoch in den Norden vorgestoßen, doch aufgetürmte Eismassen vereitelten jedes weitere Vorankommen. Der Pol schien zum Greifen nah und war unerreichbar. Sie kehrten um.

      Der Rückweg erwies sich als die eigentliche Tortur. Ohne Aussicht auf Wiederkehr zur in der Eisdrift sich entfernenden Fram hatten sie sich auf eigene Faust zu retten. Ihr Ziel war das Franz-Josef-Land, eine heute zu Russland gehörende Inselgruppe, die beinahe 1000 Kilometer weiter südlich gelegen war. Um zu überleben töteten sie nach und nach ihre Schlittenhunde. Da sie nicht schnell genug vorankamen und zunehmend die Orientierung verloren, mussten sie den arktischen Winter in einer kleinen, selbstgebauten Hütte überstehen, die so niedrig war, dass sie in ihr kaum sitzen konnten. Immerhin gelang es ihnen, die Innentemperatur um den Nullpunkt zu halten. Nach ihrem erneuten Aufbruch war es reiner Zufall, dass sie am 23. Juni 1896, über ein Jahr, nachdem sie die Fram verlassen hatten, am Kap Flora am südlichen Franz-Josef-Archipel auf den Anführer einer britischen Polarexpedition stießen. Das war die Rettung. Wenige Wochen nach ihrer Rückkehr traf auch die Fram mit der restlichen Mannschaft unversehrt in Norwegen ein.