Lesers. Darüber hinaus – und darauf kommt es hier an – ist er mit jenen intellektuellen Stimmungen angereichert, die das europäische 19. Jahrhundert in seinen letzten Jahrzehnten ausmachten und die mit ihren Pessimismen bis in das folgende ausstrahlen sollten. Nansen war ausgebildeter Zoologe und mit jener Disziplin vertraut, die durch Darwin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Leitwissenschaft aufgestiegen ist – Nansen lässt nicht unerwähnt, dass er während der langen Abende an Bord der Fram zu Darwins Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl gegriffen hat. Die traditionell seit zwei Jahrtausenden unter christlichen Vorzeichen verbürgte Stellung des Menschen im Weltganzen war durch die Annahme einer Evolution aller Lebewesen erschüttert worden. Damit nicht genug: Die 1867 von Rudolf Clausius veröffentlichte Lehre von der ›Entropie‹ als dem Endpunkt allen Energieaustausches ließ das Ende der Welt in einem Zustand der Erstarrung denkbar werden. Das Ergebnis dieses Prozesses, wie Carl Friedrich von Weizsäcker ausführt, ist der »Wärmetod«: Er besteht aber »meist nicht darin, daß die Gestalten aufgelöst werden, sondern darin, daß sie erstarren. Wenn keine Energie mehr umgesetzt wird, so können Gestalten von nun an weder entstehen noch vergehen.«7
Nansen lieferte dazu die plastischen Beschreibungen: Das arktische Eis, so führt er in einer längeren Passage aus, verweist auf die »Welt, die kommen wird! … Langsam und unmerklich nimmt die Wärme der Sonne ab, und in derselben langsamen Weise sinkt die Temperatur der Erde. Tausende, Hunderttausende, Millionen von Jahren entschwinden, Eiszeiten kommen und gehen, und die Wärme nimmt immer mehr ab; ganz allmählich dehnen sich die treibenden Eismassen weit und immer weiter aus, immer weiter dringen sie nach südlichen Breiten, ohne daß jemand es bemerkt, bis endlich alle Meere der Erde eine einzige Eismasse sind. Das Leben ist von der Erdoberfläche verschwunden und nur noch in den Tiefen des Ozeans zu finden. Aber die Temperatur fährt fort zu sinken; das Eis wächst, es wird dicker und immer dicker, die Herrschaft des Lebens verschwindet. Millionen von Jahren rollen vorüber, bis das Eis den Meeresgrund erreicht. Die letzte Spur von Leben ist verschwunden, die Erde ist mit Schnee bedeckt. Alles, wofür wir gelebt haben, besteht nicht mehr, die Früchte all unserer Mühen und Leiden sind schon vor Millionen von Jahren hinweggelöscht, begraben unter einem Leichentuch von Schnee.«8
Der zeitgeistsensible Leser wurde in diesem dramatischen Stück Futurologie – so unstimmig die Illustrationen aus heutiger astrophysikalischer Sicht auch sein mögen – auf das Ende der Welt vorbereitet. Das war – jenseits der antiken Weltbrandszenarien und jenseits der christlichen Apokalyptik – ein neuer Gedanke. Der Physiker Walther Nernst geriet 1938 regelrecht in Zorn, als ihm der junge Carl Friedrich von Weizsäcker nach seiner Entdeckung des Kohlenstoff-Zyklus als Energiequelle der Sonne eröffnete, »die Welt könne ein Ende haben«.9 Die kosmische Endlichkeit als Destruktion aller menschlichen Hoffnungen auf Fortdauer. Jahrzehnte nach seiner frühen Nansen-Lektüre ist bei Blumenberg zu lesen, es stelle die »bitterste aller Entdeckungen, die empörendste Zumutung der Welt an das Leben« dar, »daß die Welt dieselbe wäre, wenn es uns selbst nie gegeben hätte, und alsbald dieselbe sein wird, als ob es uns niemals gegeben hätte«.10 Erst das Prinzip der Entropie habe »allen Illusionen über die Frontseite der Evolution, über die Zukunft der Gattung Mensch und ihrer Werke, ein Ende gesetzt«.11 Derartiges ließ sich auch ohne die Lektüre Nansens formulieren, keine Frage. Aber von einer rezeptionsgeschichtlichen Abhängigkeit ist hier auch nicht die Rede, eher von einer Empfänglichkeit für spätere Gedanken und ihre intellektuelle Temperierung durch frühe Lektüren.
Die Empörung gegen die Auslöschung des Humanen durch eine so empfundene Rücksichtslosigkeit der Welt lässt einen weiteren Aspekt in die Reichweite der frühen Lektüre Nansens zurückprojizieren, den modernen ›Heroismus‹. An Nansens Bericht beeindruckt die schier unfassliche Kraftanstrengung, sich in einer lebensfeindlichen Natur erhalten zu haben. Inbegriff der humanen Selbstbehauptung Nansens – in diesem Fall: der Sinnzuschreibung des Sinnlosen – ist allein schon die Idee, in einer abweisenden Eislandschaft einen geographischen und somit rein ideellen Pol erreichen zu wollen. Nur für den Menschen ist dieses Ziel überhaupt als bedeutsames formulierbar. Einem sich den menschlichen Bedürfnissen verweigernden Erdteil wird so eine Intention entgegengesetzt, die noch der Ödnis einen Ort im Bedeutungskosmos des Menschen zuweist. Eben diese Fähigkeit, »aus einer Fremdnatur eine Eigenwelt zu machen«,12 hat der von Blumenberg herangezogene Giambattista Vico mit dem Attribut des ›Heroischen‹ versehen. Damit ist für Blumenberg die Leistungskraft des Menschen bezeichnet, sich angesichts der Weltfremdheit Beheimatungen zu stiften: »Leben mit dem, was wir nicht gemacht haben und nicht machen konnten, ist unsere Kunst und ist alsbald die Kunst.«13
Nansens In Nacht und Eis ist ein Dokument einer jener »großen Proben, was der Mensch aushalten kann«.14 Es ist ein Zeugnis des menschlichen Behauptungswillens angesichts der Ausgesetztheit in einer Welt, die sich als stumm erweist gegenüber unseren Sinnbedürfnissen. Inmitten der Welt aus Eis stellt die Fram eine Enklave des kulturellen Überlebens dar: »Ich schaue in die weite Ferne«, schreibt Nansen, »über die große, öde Schneeebene, eine unbegrenzte, stille, leblose Eismasse in unmerklicher Bewegung. Man hört keinen Ton außer dem schwachen Murmeln des Luftzuges in der Takelung, vielleicht, in der Ferne, das dumpfe Getöse des sich zusammenschiebenden Eises. Inmitten dieser leeren weißen Wüste nur ein kleiner dunkler Fleck, das ist die ›Fram‹!«15 Das Schiff ist ihm der Inbegriff einer »kleinen Oase« inmitten dieser »ungeheuern Eiswüste«.16 Fast ein Jahrhundert später wird Blumenberg in seinem Buch Die Genesis der kopernikanischen Welt diesen Blick auf die fragile Sphäre des menschlichen Lebens in einer lebensfeindlichen Umwelt mit den nahezu identischen Worten im astronomischen Kontext erneuern. Vom stummen Weltall aus gesehen sei die Erde eine »kosmische Oase«, ein »Wunder von Ausnahme … inmitten der enttäuschenden Himmelswüste«.17 Näher sind sich Nansen und Blumenberg im Werk des Letzteren nie gekommen.
Über diese punktuell aufblitzenden Nachwirkungen seiner frühen Empfänglichkeit für die Fragilität des Menschen hinaus gibt es einen späten Beleg für die lebenslange Prägung durch die Lektüre Nansens. 1993, hundert Jahre nach dem Aufbruch der Expedition zum Nordpol, gedachte Blumenberg dieses Abenteuers und unausdrücklich seiner eigenen frühen Lektüre in einem Zeitungsartikel unter dem Titel »Vorstoss ins ewige Schweigen«. Darin erinnert er eben an jenes Schweigen der Eiswelt, »das Nansen drei Jahre lang wie im Nichts der Ungewissheit hatte verschwinden lassen«.18
Blumenbergs Blick zurück auf Nansen verbietet sich jede Nostalgie. Mit wenigen Strichen wird die zeitgeschichtliche Distanz markiert und somit Nansens Erfahrungswelt als Teil des untergegangenen späten 19. Jahrhunderts situiert. Die Melancholie des Polarforschers wird eingebettet in die zeitüblichen Reflexionen über die entdeckte Endlichkeit der Dauer der Strahlkraft der Sonne als Bedingung des Lebens. Seit dieser Einsicht habe ein »düsteres emotionales Moment … über dem menschlichen Selbstverständnis«19 gelegen. Nansens »eschatologische Banalitäten«20 sind für Blumenberg eher Zeit- als Wissenschaftsgeschichte. Überhaupt sei dessen Nachdenken während der Eisdrift der Fram »nicht originell für dieses Jahrzehnt; nur hebt es sich vom zumeist in bildender Absicht Geschriebenen dadurch ab, dass es nicht bloss aus dem Wissensertrag des Jahrhunderts hervorgeht, Wissenschaft zu Wissen verbreiternd, sondern aus der Anschauung des gerade überlebten ersten Polarwinters auf oder in der ›Fram‹«.21
Das Grundmotiv, das Blumenberg in seiner Erinnerung an den Polarforscher schon im Titel seines Artikels hervorhebt, ist aber nicht in erster Linie die Kälte, das Eis oder die Finsternis, sondern etwas, von dem Nansen wiederholt berichtet, ohne es ins Zentrum gestellt zu haben: das Schweigen der Eiswelt. »Alles ist so seltsam still und ausgestorben«,22 heißt es bei ihm. Durch die Akzentuierung dieser Erfahrung akustischer Entbehrungen wird Nansen assoziativ in einer geistesgeschichtlichen Linie verortbar: Pascal hatte davon gesprochen, das ewige Schweigen der kosmischen Räume mache ihn schaudern,23 Camus hat das Absurde beschrieben als den »Zusammenstoß zwischen dem Ruf des Menschen und dem vernunftlosen Schweigen der Welt«,24 und Blumenberg schließlich hat auch festgestellt, die wissenschaftlich verobjektivierte Welt sei »stumm geworden auf die Frage, welche Stellung der Mensch in ihr einnimmt«.25
Damit ist