Jürgen Goldstein

Hans Blumenberg


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erarbeiteten Kenntnisse des mittelalterlichen Seinsdenkens aus der gegenwärtigen Situation heraus zum Sprechen zu bringen.

      Hat man das spätere Werk des Philosophen im Blick, ist an der Dissertation bemerkenswert, wie stark Blumenberg in ihr von der philosophisch reflektierten Theologie des Mittelalters ausgeht, wie er sie bei Augustinus, Thomas von Aquin, Bonaventura und Duns Scotus vorfindet; er begreift sich in dieser Frühphase seines akademischen Werdeganges noch wie selbstverständlich als Ontologe. Zugleich dient ihm die kritische Auseinandersetzung mit der Fundamentalontologie Heideggers dazu, die mittelalterliche Ontologie auf Gegenwärtigkeit zu eichen, seine Darstellung mittelalterlichen Denkens ist »typologisch und nicht historisch«48 gemeint – Blumenberg unternimmt es, dem mittelalterlichen Denken Typen des Selbst- und Weltverständnisses zu entnehmen, mithilfe derer sich gegenwärtige Wirklichkeitserfahrungen fassen lassen sollen. Er sucht keinen Rückgriff auf mittelalterliche Traditionalität, um den Katastrophen der Gegenwart restaurativ zu entkommen, vielmehr prüft er, ob Innovationen des mittelalterlichen Denkens den gegenwärtigen Daseinserfahrungen standzuhalten vermögen. Ausdrücklich fragt er – mit Heidegger – nach der »Forderung und Leistung eines Neuansatzes der Ontologie als der Fundamentallehre der Wirklichkeitserfahrung«, denn »wie vielleicht niemals zuvor« seien »alle ›Einschlüsse‹ der Vergangenheit, alle formalen und gehaltlichen Bindungen an das Überholte infrage gestellt«.49 Der Versuch, mittelalterliches Denken innovativ für die Gegenwart aufzuschließen, ist für jene Zeit radikaler Umbrüche nicht so ungewöhnlich, wie es heute erscheinen mag: Karl Rahner revolutionierte die katholische Theologie durch eine Neuinterpretation der Theologie des Thomas von Aquin, indem er mit ihm eine neue Theologie der Welt beginnen ließ, auf die es der Gegenwart ankommen musste; sein Schüler Johann Baptist Metz ist ihm darin gefolgt, indem er eine Theologie nach Auschwitz entwarf. Es ließen sich also auch aus den Klassikern des Mittelalters Funken schlagen, die die gegenwärtige Situation zu erhellen vermochten.

      Worum also geht es in Blumenbergs Dissertation? Auch wenn eine philosophische Schrift nicht allein auf Späteres gelesen werden sollte, möchte ich an einen zentralen Punkt heranführen, der sich leitmotivisch im weiteren Werk Blumenbergs fortsetzt: die theologische Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts durch den freien und rational nicht verstehbaren Willen Gottes, der die Kontingenz der Welt begründet. Mit der Kontingenz kommt die Faktizität der geschichtlichen Erfahrung in den Blick, die es in ihrer Ursprünglichkeit zu erfassen gelte. Dies ist der kognitive Glutkern, auf den Blumenberg – gegen Heideggers Seinsgeschichte gewendet – verweist und der bis in die späteren Schriften wie der Legitimität der Neuzeit nachstrahlt.

      Heidegger hatte Sein und Zeit damit eröffnet, es gelte – nach zweieinhalb Jahrtausenden Philosophiegeschichte – die Frage nach dem Sinn von Sein neu zu stellen: »Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort ›seiend‹ eigentlich meinen? Keineswegs.«50 Nicht einmal eine Verlegenheit darüber stelle sich ein, den Ausdruck ›Sein‹ nicht zu verstehen. Heidegger hebt also an, die Frage nach dem Sein zu erneuern und die Zeit als möglichen Horizont eines jeden Seinsverständnisses anzunehmen. Die Tradition des Seinsdenkens seit Platon bis in die Gegenwart erweist sich ihm als eine Verdeckungsgeschichte, als ein Verfehlen der eigentlichen Frage, als Verfallsgeschichte, weshalb sich die Aufgabe einer »Destruktion der Geschichte der Ontologie«51 stelle. Wieder einmal nimmt eine Philosophie sich vor, eine verhängnisvolle Tradition abzuräumen, um mit dem Denken neu ansetzen zu können. »Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen werden«, führt Heidegger aus, »dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeigten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden.«52

      Blumenbergs Anliegen besteht nun darin, gegen das von Heidegger gezeichnete Bild vom abendländischen Seinsdenken als einer epochenübergreifenden Verfehlung die Beiträge des mittelalterlichen Denkens als Formen ursprünglichen Denkens zu verteidigen. Die Scholastik sei »nicht nur Vermittlung und Durchgang für das antike Erbe«, sie besitze eine »ausgeprägte ursprüngliche Eigenleistung«,53 die es wertzuschätzen gelte. In einer früheren Arbeitsfassung trug Blumenbergs Dissertation den das Ziel seiner Arbeit eindeutiger herausstellenden Titel Die Leistung der scholastischen Metaphysik, im Hinblick auf den ontologischen Ansatz bei Martin Heidegger; für die Publikation, die nicht zustande kam, hatte Blumenberg seinem Doktorvater, Ludwig Landgrebe, den Titel Tradition und Ursprünglichkeit. Studie zum geschichtlichen Sinn des mittelalterlichen Denkens vorgeschlagen.54 Was sich angesichts des Titels der eingereichten Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie wie ein Spezialproblem der mittelalterlichen Ontologiegeschichte ausnehmen mag, reicht thematisch weit über den mit dem Titel bezeichneten Gedankenradius hinaus und ist für Blumenbergs weiteres Werk von großer Aufschlusskraft. Erste Leitmotive klingen an: Gegen Heidegger verteidigt Blumenberg die Geschichtlichkeit der Geschichte; der mittelalterliche Gott Blumenbergs tritt als ein voluntaristischer, in seinen Schöpfungsabsichten freier Akteur auf die Bühne des Denkens; damit taucht der zentrale Begriff am Horizont des Blumenberg’schen Denkens auf, um den sein Werk kreist: die Kontingenz der Welt. Schon an diesen drei Denkmotiven lässt sich Blumenbergs früh einsetzender Umgang mit überkommenen Traditionsbeständen ablesen: Durch interpretatorische Zuspitzungen gelingt ihm eine Dramatisierung der Bewusstseinsgeschichte, deren erzeugte Prägnanz und problemgeschichtliche Kontinuität an Faszination gewinnt, wo es ihr mitunter an Differenzierung fehlt. Das lässt sich kurz anhand der Einführung dieser Motive in der Doktorarbeit zeigen.

      Heidegger denkt nicht geschichtlich genug, so der Vorwurf, da er ein Schema des Niedergangs auf die abendländische Geschichte projiziert, das ihn für ursprüngliche Neueinsätze des Denkens unempfänglich macht. Wenn es aber gelingt, ursprüngliches Denken in der von Heidegger verfemten Tradition aufzuweisen, ist exemplarisch ihre Wertigkeit zurückgewonnen und die Geschichtlichkeit als Herausforderung ursprünglichen Denkens gegen den pauschalen Vorwurf der Verfallenheit verteidigt.

      In einem ersten Schritt stimmt Blumenberg Heidegger zu, indem er die Gefahr einer Überlast der Tradition ausmacht, die eine gedankliche Bewältigung einer jeden Gegenwart erschwere. »In der Tat scheint keine Äußerung des menschlichen Geistes so belastet mit Tradition zu sein wie die Philosophie. Ihre Grundfragen und ihre Grundbegriffe gehen durch ihre mit der des Abendlandes zusammenfallende Geschichte in einzigartiger Kontinuität hindurch.«55 Ursprünglichkeit dagegen ist für Blumenberg »bezogen auf das Heute der lebendigen geschichtlichen Erfahrung und die diesem zugehörige ontologische Interpretation«.56 Zwar habe seine Gegenwart »ein so scharfes und betontes Erlebnis geschichtlicher Faktizität« gehabt, wie kaum eine Gegenwart zuvor, und sie habe die Erfahrung der »kurzatmigen Mutabilität ihrer Wirklichkeit mit so viel beharrlicheren und zur Dauer gewillten Kategorien des geistigen Verstehens zu bewältigen«, da sie die »Spannung von Erfahrung und Verstehen in einzigartiger Weise – man darf schon sagen: – erleidet«;57 dennoch ist das Phänomen der Ursprünglichkeit im Denken – und nun wendet sich Blumenberg gegen Heidegger – kein Gütesiegel allein der Moderne oder eines fernen Ursprungs. Ein jedes Denken in jeder Epoche zeichne sich dann durch Ursprünglichkeit aus, wenn der zugrundeliegende geschichtliche Wandel und somit die jeweiligen Gegenwartserfahrungen ohne verdeckende Engführung traditioneller Kategorien gedacht werden. Um diese Ursprünglichkeit in jeder geschichtlichen Situation zu erreichen, bedarf es einer Kritik, einer Destruktion der verhärteten Tradition als »verfestigtem Überkommen«.58 Ursprünglichkeit bezeichnet den »inneren wesenhaften Anspruch des Philosophierens« selbst, es ist »nicht ein kurzes, unnachhaltiges Aufblitzen am Beginn, sondern ein im philosophischen Verhalten immer wieder Andrängendes und Aufgegebenes«.59

      Für Heidegger galt es, durch eine Destruktion der gesamten abendländischen Tradition zu einem ursprünglichen Seinsdenken vorzustoßen. Dazu nahm er Anlauf, die Tradition zu überspringen, um zur Originalität der Vorsokratiker zurückzufinden. Heideggers Ansatz ist so gewalttätig wie ihm die Geschichte des Seinsdenkens verfehlt erscheint. Für Blumenberg dagegen ist Heideggers